Das ganz normale Enigma – Mick Jagger über neue Einsichten und alte Loyalitäten
Seit die Stones nur noch alle Jubeljahre rollen, nutzte ihr Vordenker und Vorturner die gewonnene Zeit zur Pflege seiner mannigfachen außer musikalischen Interessen. Jetzt, acht Jahre nach seiner letzten Soloplatte und vier Jahre nach der letzten StonesLP, tritt Mick Jagger erneut ins Rampenlicht: als Musiker und Songschreiber mit dem Soloalbum „Goddess In The Doorway“ – und als Produzent des Films „Enigma“.
Mick Jagger ist Meister vieler Disziplinen. Rollenspiele gehören definitiv dazu. Seine Gegenüber haben schlechte Karten, doch spricht der Umstand, dass sie das für gewöhnlich nicht merken, für Jaggers Generosität und seinen nicht unbeträchtlichen Charme. Es spricht aber auch für eine gewisse Gleichgültigkeit in Bezug auf Dinge, die der berühmteste und am umfassendsten gebildete Mann des Pop-Kosmos unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle durchrutschen lässt.
Das Jaggersche Radarsystem ist ein fein justiertes, hochempfindliches Messinstrument für kulturelle Phänomene, sein Wissensdurst ist legendär und schließt neben Musik und Film auch Kunst mit ein, Literatur und Geschichte, Architektur und Antiquitäten, Cricket und Pädagogik. Man müsse, so Mick über das Management seiner universalen Interessen, einer Sache stets höchste Aufmerksamkeit widmen, eine begrenzte Zeit, solange die anderen Dinge zurückstehen. Auf alles zugleich könne man sich nicht konzentrieren.
Wohl wahr, doch scheinen diverse Aspekte der Medienwirklichkeit ausgespart zu werden. Die selbstreferentielle, hypegestresste und gerne wild um sich schlagende britische Musikpresse etwa. Dort hat in den neunziger Jahren ein Generationenwechsel stattgefunden. Dreißigjährige haben jetzt das Sagen, Leute, die ein grausames Schicksal in der popmusikalischen Ödnis der späten Achtziger ausgesetzt hat, Leute, deren ästhetische Leitkultur von Figuren wie Shaun Ryder und Ian Brown geprägt wurde, Leute, die nicht schreiben und kaum lesen können. Die Rolling Stones im allgemeinen und Mick Jagger im besonderen sind nicht eben wohlgelitten bei diesen Multiplikatoren, hatten sie doch in den vergangenen zehn Jahren keinerlei Anstrengung unternommen, mit dem Brit-Pack ins Gespräch zu kommen. Zu weltläufig war diese Band, zu weit weg auch, um in Islington oder selbst in Camden Town noch größere Relevanz zu haben.
Als die Stones aus Steuergründen die britischen Dates ihrer letzten Billionen-Dollar-World-Tour absagten und auf das folgende Jahr verlegten, begannen sogar Fans auf Distanz zu gehen. Mick Jaggers Beteuerungen, man tue dies ausschließlich im Interesse der Road-Crew, die sonst ihrer schwerverdienten Kröten verlustig ginge, entsprachen zwar der Wahrheit, wurden vom Blätterwald aber mit Häme quittiert. Die englische Klassengesellschaft kennt da kein Erbarmen. Die Weigerung der Stones, nach dem Tod der Hl. Diana am eilig inszenierten Benefiz-Rummel teilzunehmen, trug auch nicht eben zur Image-Verbesserung bei. Keith, treuherzig: „I didn’t know the chick.“
Und dann gibt es, man fasst es kaum, noch die alten, längst zugeschüttet geglaubten Gräben, die in den Sixties ausgehoben worden waren. Der Taxifahrer, der mich von Heathrow zum Interview nach Knightsbridge karrt, ein freundlicher alter Herr, beginnt zu fluchen, als er erfährt, wem ich gleich gegenübertreten würde. Die Rolling Stones, so ist seinem Redeschwall zu entnehmen, hätten die britische Gesellschaft im Alleingang kaputtgemacht, und seien die Wurzel alles nur erdenklichen Übels. Die Monarchie bröckelt, die Züge fahren unpünktlich, Jim Reeves ist tot und der gottverdammte Scheiß im Radio schon lange nicht mehr auszuhalten:
Blame it on the Stones.
Soweit ein paar Außenansichten mit mehr oder weniger großen Knicken in der Optik. Fragt man Leute, die Jagger besser kennen, Kollegen etwa, entsteht ein Bild, das himmelweit entfernt ist vom Jet-Set-Klischee einschlägiger Blätter. „Mick Jagger is a true patron of the arts“, sagte Taj Mahal einmal, und ähnliche Wertschätzungen sind im Dutzend verbürgt, von Muddy Waters bis Willie Dixon. Bei seinen Freunden steht Jagger im Ruf, ein aufmerksamer Zuhörer und pragmatischer Helfer zu sein. Als Interviewpartner gilt er als harte Nuss, die nicht zu knacken ist. „Mick? He’s an interesting bunch ofblokes“, so der berühmte, gern zitierte und fraglos zutreffende Satz von Bill Wyman, wirft bei jedem Themenwechsel eines Gesprächs unweigerlich die Frage auf, mit welchem interessanten Kerl man gerade das Vergnügen hat.
Sie hat schon etwas Provozierendes, diese Präsenz, mit der Mick Jagger den Raum füllt. Der federnde Schritt, die evidente Fitness, die Beiläufigkeit des Tons und dieses leicht spöttische, fast unverschämte Grinsen, bei dem sich die Augen zu Schlitzen verengen und das Gesicht nur noch aus Lippen zu bestehen scheint. Er schaut dir in die Augen, wenn du sprichst, gibt dir das gute Gefühl, dass auch deine Worte zählen. Er lacht viel, zeigt sich amüsiert, behandelt dich mit ausgesuchter Höflichkeit. Nur zweimal ist er ungehalten, weil ich ungezogene Fragen zu stellen wage. ,J can’t believe you ‚re asking this question“, sagt er, lacht lauter, schüttelt ungläubig den Kopf und lässt sich doch zu einer sehr sachlichen, sympathischen Antwort herbei. Seine Motivation ab Musiker betreffend, da möchte er keine Zweifel aufkommen lassen. Noch entschiedener springt er für seine Freunde und Mitmusiker in die Bresche, die ich ihm zu abfällig beurteile: Bono, Lenny, Wyclef.
Natürlich sind die Fragen auch provozierend gestellt, natürlich werfen sie ihn nicht aus der Bahn, und doch ist der nette Kerl, der mich begrüßt hatte, nicht derselbe, der mich verabschiedet. Faszinierend sind sie beide, die Zeit mit ihnen vergeht wie im Flug. Leider, denn gern hätte ich noch zwei, drei Micks kennengelernt, die sich in außermusikalischen Zirkeln bewegen. Den Filmproduzenten etwa, dessen von der Kritik äußerst wohlwollend aufgenommener Streifen „Enigma“ gestern hier am Leicester Square Premiere hatte. Und der bereits zwei neue Projekte in petto hat: die Verfilmung von Kazuo Ishiguros Bestseller „When We Were Orphans“ sowie „The Long Play“, eine Comedy über die Musikindustrie und ihre machiawellistischen Machenschaften, zu der er das Drehbuch schrieb, gemeinsam mit Rieh Cohen und Martin Scorsese, der auch Regie führen soll.
Auch der Schauspieler Jagger hätte einiges mitzuteilen gehabt. „The Man From Elysian Fields“ heißt der neue Film, mit dem er seiner Darstellerlaufbahn wieder Schub gibt, an der Seite von Andy Garcia, James Coburn und Anjelica Huston. Hätte man alle Zeit der Welt, würde man philosophische Fragen erörtern und die politische Weltlage, man würde Micks Meinung über den neuen Tory-Leader Iain Duncan Smith eruieren, seine Kriterien für Kunstkäufe oder Kindererziehung. Man würde wissen wollen, welche Pläne die Stones haben und wie es sich mit Britney schäkert. Ein andermal. Hier und heute geht es um „Goddess In The Doorway“ -Micks viertes Solo-Album und in punkto Stilvielfalt fast so facettenreich wie sein Schöpfer. Jagger hat diesmal zunächst alles alleine konzipiert, die basic tracks zu Hause aufgenommen und ihnen dann mit wechselnden Partnern Feinschliff gegeben. „Nicht zuviel davon allerdings“, erklärt Jagger, „am Ende war ich selbst überrascht, wie wenig wir eigentlich verändert haben. Vieles von dem, was in Heimarbeit entstanden ist, habe ich so belassen. Es gibt dem Album mehr Lockerheit, den einzelnen Tracks mehr Freiheit und dem Hörer hoffentlich eine Ahnung davon, wieviel Freude mir diese Aufnahmen gemacht haben.“
Deine neuen Songs seien sehr persönlicher Natur, hieß es, und sie hätten enormes kommerzielles Potential. Wie geht das zusammen?
Keine Ahnung, ich habe nichts dergleichen verlautbart (lacht). Natürlich sind die Songs persönlich. Man schreibt sie, sie kommen von Herzen, sind in gewisser Weise ein Teil von dir. Ob die neuen Songs persönlicher sind als dieser oder jener ältere, weiß ich nicht. Ich denke, sie sind direkter. Einige sind sehr emotional, also unbedingt persönlich.
Gilt das nicht auch für die Songs auf, sagen wir, Deinen anderen drei Solo-Platten?
Keine Ahnung, ich kann mich ja nicht einmal erinnern, welche Songs auf den letzten Platten waren.
Ich schon. Wir könnten sie ja der Reihe nach durchgehen.
Bloß nicht (lacht). Aber es stimmt, einige der Songs auf den früheren Platten hatten sicher auch eine sehr persönliche Bedeutung, mindestens für mich.
Was den Verkaufserfolg Deiner Solo-Scheiben betrifft, so würden die allermeisten Künstler wahrscheinlich liebend gern mit Dir tauschen. Waren Deine Erwartungen nicht höher?
Nein, denn ich hatte keine. Ich wollte diese Platten einfach nur machen. Der Plattenfirma obliegt es, sie zu verkaufen. Konkrete Erwartungen hatte ich diesbezüglich keine, Enttäuschungen somit auch nicht.
Vor circa zwölf Jahren wurdest Du in einem Interview mit der Aussage zitiert, es mache keinen Sinn, Platten zu veröffentlichen, wenn sie nicht in großen Mengen abgesetzt werden könnten. Zählen letztlich also nur die Hits?
Ich kann mich wahrhaftig nicht daran erinnern, etwas derartiges gesagt zu haben. Man kann an Musik nicht den Anspruch stellen, gefälligst erfolgreich zu sein. Andererseits willst du immer, dass deine Songs gehört werden und dass da draußen möglichst viele Leute deine Musik mögen. Würde mich wundern, wenn es Musiker gäbe, die das anders sehen. Was indes die Stückzahlen betrifft, die über den Ladentisch gehen, so ist das für mich kein Kriterium. Solange die Leute Gelegenheit haben, die Musik zu hören, spielt die Verkaufszahl keine Rolle.
Hältst Du Dich über Deine Plattenumsätze überhaupt auf dem Laufenden?
Am Rande. Nicht wie die meisten, die immer auf dem aktuellen Stand sein müssen, aber es ist auch nicht so, dass es mich nicht interessiert. Ich will schon einigermaßen Bescheid wissen. Manchen Leuten ist es ja schnuppe. Okay, die Verkäuflichkeit ist also zweitrangig. Was ist für Dich das Wichtigste beim Songschreiben? Einen Ausdruck für persönliche Gefühle und Gedanken zu finden?
Das auch manchmal. Aber es ist nicht die Regel, dass man sich hinsetzt und versucht, den Songs die eigene Persönlichkeit aufzudrücken. Das kommt von alleine, wenn man Stunden und Tage an einer Aufnahme arbeitet. Im übrigen ist nicht nur meine Persönlichkeit auf dieser Platte, sondern da sind die durchaus persönlichen Beiträge der verschiedenen Musiker. Matt Clifford hat unglaublich viel Zeit investiert und auch Ideen.
„She s The Boss schien wie aus einem Guss, obwohl doch mehrere Produzenten daran gearbeitet haben. Dasselbe gilt für “ Wandering Spirit“, während „Primitive Cool“ stilistisch eher zerrissen war. Würdest Du dem zustimmen und wenn ja, gehört „God~ dess“ nicht in letztere Kategorie?
Ja, kann sein. Rein gefühlsmäßig sind die Songs sehr unterschiedlich. Love Songs und andere Songs, die an Frauen addressiert sind (lacht). Andere sind eher spiritueller oder humorvoller Natur. Aber sie wurden alle im selben Raum geschrieben und geschaffen, die meisten jedenfalls. Und die Leute, die darauf spielen, sind weitgehend dieselben. Ich glaube, diese Gemeinsamkeiten halten sie zusammen, auch wenn sie stilistisch auseinanderfallen.
Was verbindest Du mit dem Begriff „spirituell“?
Das mag interpretierbar sein. Es dreht sich um dein Verhältnis zu Gott und zur Natur.
In einigen der neuen Songs scheinst Du wie schon früher des öfteren mit metaphysischen Aspekten zu spielen. „God Gave Me Everything“ hat dagegen etwas beinahe Konfessionelles.
Das ist der Song, den ich gemeinsam mit Lenny Kravitz schrieb. Wir saßen in diesem Haus in Miami, hatten so weit alles fertig außer den Versen. Ich habe mich in eine Ecke zurückgezogen, und dort flogen mir die Worte irgendwie zu. Das ist manchmal so. Hat 15 Minuten gedauert.
Woher kommt diese Faszination für religiöse Themen?
Diese Dinge nehmen in bestimmten Lebensabschnitten eine größere Bedeutung an als sonst. Das geht vielen Menschen so. Sie durchleben eine Phase, wo solche Überlegungen eine Rolle spielen. Wenn du den Text eines Songs alleine verfasst, dann passiert das oft in einem stream of conscionsness, eins führt zum anderen, und am Ende schaust du dir an, was du zu Papier gebracht hast und du staunst selbst darüber, dass dies oder jenes ein solches Gewicht bekommen hat. Vermutlich musste es einfach raus.
Diese Konnotationen linden sich in einigen Deiner neuen Songs.
Ich weiß, davon habe ich ja gerade gesprochen. Es gibt Zeiten im Leben, wo Dinge in den Vordergrund treten, an die man im Alltag kaum Gedanken verschwendet. Das hat nicht einmal damit zu tun, was um dich herum passiert, nichts mit deinem Alter, nichts mit deinen jeweiligen Aktivitäten. Es scheint über dich zu kommen in Phasen der Kontemplation. Ja, es stimmt, dass ein oder zwei Songs davon berührt wurden, aber das macht es nicht gerade zu einer Gospelplatte.
Hast Du denn überhaupt Zeit zur Kontemplation?
Man muss sich die Zeit dafür nehmen, und wenn es nur eine Stunde am Tag ist. Naja, eine ganze Stunde scheint mir dann doch etwas viel, das müsste schon ein sehr langer Tag sein (lacht).
Du reservierst diese Zeit ganz bewusst zum Nachdenken?
Yeah, ich denke, das ist sehr gut, sehr hilfreich. Andernfalls bist du immer nur am Machen und Tun. Du musst ab und zu deinen Kopf freibekommen. Es ist auch sehr gut für das Schreiben von Songs, wenn du deine Gedanken ordnest. Es ist nicht unbedingt nötig, Songs lassen sich unter allen erdenklichen Umständen schreiben, aber ich habe für mich festgestellt, dass ein wenig mehr Nachdenklichkeit den Songs sehr zugute kommen kann.
Ich halte die Reihenfolge der Tracks auf „Goddess“ liir eher unglücklich. Die schwächeren sind vorne platziert, dann steigert sich das Album enorm.
Das ist Deine Meinung. Die meisten Leute sehen das anders. Ich finde es gut, dass Du die Stücke weiter hinten mehr schätzt. Es spricht ja nicht gegen eine Platte, wenn man sie besser findet, je länger man sie hört.
„Joy“ klingt so sehr nach U2, dass man meinen könnte, Du hättest den Song für Bono geschrieben.
Überhaupt nicht. Der ganze Track war schon fertig aufgenommen, als mir die Idee kam, Bono zu fragen, ob er nicht darauf singen wolle. Ich meine, man muss jungen Leuten hin und wieder eine Chance geben, sich zu beweisen (lacht). Ich kenne ihn schon seit etlichen Jahren, da lag die Idee nicht fern. Weil er aber gerade auf Tour war, mussten wir die Vocals sozusagen unterwegs aufnehmen, in Köln, in einem Hotelzimmer. Hat sich halt so ergeben. Mich erinnert ,Joy“ mehr an The Who, Du weißt schon, dieses klassische Stück mit dem elektronisch pulsierenden Intro.
„Won’t Get Fooled Aqain“?
Genau. Von der Struktur her, aber auch, weil Pete Townshend hier sicher leicht herauszuhören ist. Es ist schon eine Art Gospel-Song, aber der Gedanke an Bono kam mir erst im Nachhinein.
Wie kamen die anderen Kollaborationen zustande?
„Nun, die meisten kenne ich schon seit einer Ewigkeit. Pete ist mein Nachbar, ich sehe ihn häufig. Und als ich ihm erzählte, dass ich dieses Album machen würde, wollte er unbedingt dabei sein. Der Gute ließ nicht locker (lacht), und ich bin froh darüber.“
Wie ist Euer Verhältnis? Er ist doch ein so großer Stones-Fan und redet bei jeder Gelegenheit davon.
„Nicht wenn wir zusammen sind (lacht). I would never know that. Obwohl ich ihn ziemlich oft sehe, nicht nur zufallig auf der Straße oder bei gesellschaftlichen Anlässen. Es war völlig zwanglos. Als er mir sagte, er wolle aui meiner Platte spielen, sagte ich fein und wählte die Tracks aus, die ich für geeignet hielt,, Joy“ und „Gun“.
Ist es Zufall, dass die positiv gestimmten, hymnischen Songs am Anfang stehen und die dunkleren, härteren hinten?
„Ich habe mir darüber nicht den Kopf zerbrochen, es ergab sich so. Konzepte dieser Art würden ohnehin scheitern, glaube ich, weil sich die Hörgewohnheiten doch sehr geändert haben. Kaum jemand hört sich ein Album noch von vorne bis hinten an. Ich mache das ja selbst nur selten. Deine Einwände gegen das Sequencing relativieren sich, wenn man sich ansieht, wie viele Leute heutzutage Musik hören. They download, they make their own selections. Alben werden kaum noch als komplette Werke wahrgenommen, jedenfalls nicht von den ganz jungen Leuten.
Gilt das auch für Deine Kinder?
Das hat mich tatsächlich eine Weile beschäftigt. Schließlich habe ich sie gefragt, ob sie LPs richtig durchhören. Die Antworten fand ich bezeichnend: one does, one doesn’t. Mein Sohn James hört sich ganze Alben an, meine Tochter nie.
Für Jungs war Musik immer schon wichtiger, sie nehmen sie viel ernster.
Yeah, they do.
Du hattest eigentlich immer schon eine ausgeprägte Aversion gegen rückwärtsgewandtes und erinnerungsseliges Denken. Ändert sich das jetzt langsam?
Nein, nicht im Geringsten. Warum sollte es?
Möglicherweise weil man mit zunehmendem Alter beginnt, manches zu vermissen. Oder weil einen die Kinder permanent an die eigene Jugend erinnern.
Da ist was dran. Darum geht es ja in „Too Far Gone“. Dinge von früher, die dich einholen. Kinder, Gebäude, was weiß ich. Und der Anfang, die Sache mit dem Hass auf Nostalgie: it’s a disclaimer opening line.
War das nicht ein Problem, als Du Deine Autobiografie schreiben wolltest, dass es Dir schwerfiel, die Fakten zusammenzutragen?
Nein, das weniger. Ich merkte einfach nur, dass es mir keinen Spaß machte, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Du musst dich dazu zwingen, das alles noch mal zu durchleben. Das war nichts für mich.
Bill Wyman sagt. Dir hätten die harten Fakten gefehlt. Deshalb hättest Du ihn gebeten, Dir seine Unterlagen zur Verfügung zu stellen, und er habe Dich abblitzen lassen.
Nein, das ist völlig falsch. Ich habe Bill um nichts dergleichen gebeten. Ist doch ohnehin alles in seinem Buch. And it’s so boring, so very boring. Es hätte das Potenzial gehabt, eine wirklich faszinierende Lektüre zu werden, aber es liest sich wie der Bericht eines Buchhalters. Nicht, als hätte er tolle Erlebnisse gehabt und würde darauf brennen, sich mitzuteilen. Nein, das Buch ist armselig und kein bisschen amüsant.
Immerhin scheinst Du „Stone Alone“ gelesen zu haben.
Nein, habe ich nicht Nur ein paar Abschnitte zum Abgewöhnen. Und diverse Passagen, die in Tageszeitungen nachgedruckt wurden. Ermüdend.
Hast Du sein neues Buch schon gesehen?
Eine Fortsetzung?
Nein, es heißt „Bill Wyman’s Blues Odyssey“ und ist ein wirklich schönes Kompendium zur Bluesgeschichte.
Das klingt interessant. Ich gehe heute abend mit ihm essen. Ich sollte ihn gleich anrufen und ihn bitten, mir eines mitzubringen.
Wie hast Du Dich gefühlt, als Du die Arbeit an Deiner Autobiografie hingeschmissen hast?
Befreit. Ich hatte ja noch gar nicht richtig begonnen. Zum Glück habe ich zeitig gemerkt, dass das nichts für mich ist. Show-Business-Biografien geben nur ganz selten etwas her, das Meiste ist oberflächlich.
Aber zunächst wolltest Du die Bio doch schreiben.
Nein, wollte ich nicht. Man hat mich dazu überredet.
Wer?
Mein Business-Manager. Und ich dachte, es sei vielleicht einen Versuch wert, aber ich habe mich getäuscht.
Bist Du chronologisch vorgegangen und wenn ja, wie weit bist Du gekommen?
Ein paar Monate (lacht). Das Problem ist, dass du dich ehrlich und aufrichtig über eine Menge Leute äußern musst, dass diese Leute größtenteils aber noch leben und sich natürlich unheimlich darüber ärgern.
Besteht darin nicht der eigentliche Unterhaltungswert von Autobiografien?
Nicht für mich, ich finde das abgeschmackt. Ich kann nicht finden, dass es meine Aufgabe ist, anderen Menschen ihre Fehler vorzurechnen.
Und der 3-Millionen-Pfund-Vorschuss vom Verlag?
Wieviel es auch immer war, ich habe es zurückgezahlt Was motiviert Dich, Deine Solo-Karriere als Musiker fortzusetzen? Du bist Vater, Filmproduzent, Schauspieler, Mäzen, hast den Job bei den Stones und ein materieller Anreiz ist auch nicht da, nachdem sich Deine bisherigen Solo-Platten gut, aber nicht großartig verkauft haben.
Man tut nicht alles im Leben aus kommerziellen Erwägungen. Warum schreibt man Songs, warum macht man Musik? Ich mache das sehr gern, die Aufnahmen, die Arbeit mit meinen Freunden hat mir Spaß gemacht. Natürlich könnte ich auch etwas anderes machen, aber dann würde mir etwas fehlen. Also setze ich mich in mein kleines Studio und schreibe Songs.
Du hast also Demos produziert und später die einzelnen Spuren überspielen lassen?
Ja, das kam vor. Diese Leute sind ja erheblich bessere Musiker als ich es je sein werde. Trotzdem habe ich auch viel von den ursprünglichen Aufnahmen behalten, auf denen nur ich zu hören bin.
Die Texte sind alle von Dir?
Ja, so ziemlich.
Die Lyrics auf „Gun“ sind ausgesprochen böse. Sind sie an eine reale Person gerichtet?
Yeah, aber ich musste ihr versprechen, dass ich ihren Namen nie nennen werde (lacht).
Ich kann mir nicht helfen, aber wenn Mick Jagger mit Bono singt, kommt mir das vor, als sänge Bob Dylan im Duett mit Sting.
Und warum sollten sie das nicht tun? Ich könnte mir das sehr gut vorstellen, Du nicht?
Schon, aber eine schöne Vorstellung ist das nicht.
Fair enough, Dir missfallt also, wenn ich mit Bono singe. Ich denke, damit kann ich leben. Er ist ein alter Freund von mir. Bob Dylan hat mich auch gefragt, ob wir nicht etwas zusammen machen könnten. Gefallt Dir diese Konstellation besser? Ich sehe da keine grundsätzlichen, nur graduelle Unterschiede. For me it’s kinda fun. Ich habe 40 Jahre lang in derselben Band gespielt, mit mehr oder weniger denselben Leuten. Was sollte verkehrt daran sein, zwischendurch mal etwas anderes zu versuchen? Dies ist nichts Aufgesetztes, nichts Künstliches. Ich brauche auch keine Beschäftigungstherapie. Ich mag diese Leute, ich liebe diese Arbeit, I’m just enjoying myself, that’s all.