Kurs und Diskurs
Nach Bonos geopolitischen Planspielen ringen U2 nun wieder um die musikalische Standortbestimmung
Der Mann mit dem Military-Schlapphut stolziert über den Kies-Strand wie ein Söldner auf Urlaub, kurz vor dem nächsten Einsatz. „Ich brauch was zu rauchen“, stöhnt Bono und geht seinem Gesprächspartner in gespielter Verzweiflung an die Gurgel. Was bei Nichtrauchern allerdings wenig erfolgversprechend ist.
Die Kellnerin hat sein Klagen erhört und bringt eine Schachtel. Rauch-Pause. Bono und The Edge sitzen in ihrem Feriendomizil an der französischen Mittelmeerküste in einem spartanisch eingerichteten Bistro direkt am Strand – nicht gerade die typische Chill-Out-Zone für millionenschwere Rockstars, dafür aber ruhig und unauffällig. Unter den wenigen Touristen, die sich in der Abendstunde hierher verirren, fallen die beiden U2-Musiker kaum auf. Sie machen Urlaub von der gerade abgeschlossenen Arbeit am neuen Album „All That You Can’t Leave Behind“. Dreieinhalb Jahre nach den enttäuschenden Verkäufen des Vorgängers „Pop“ wollen sich die Vier wieder als global player ihrer Zunft profilieren. Auf den Websites dieser Welt wurden die neuen Songs schon vorab häppchenweise oder komplett zum Downloaden serviert – Teil einer großangelegten PR-Kampagne, die den Appetit auf das neue Werk anregen soll. In Zeiten, da selbst arrivierte Acts nicht mehr davon ausgehen können, automatisch den ersten Platz der Charts zu belegen, achten auch kommerzielle Selbstläufer wie U2 darauf, dass im Vorfeld nichts anbrennt. Für die Mixe und die Produktion der neuen Songs wurden daher mit Steve Lillywhite („War“) sowie Daniel Lanois und Brian Eno („The Joshua Tree“,“Achtung Baby“) gleich drei Erfolgsproduzenten aus den goldenen U2-Jahren zusammengetrommelt. „Es hat sich ausgezahlt, dass wir uns diesmal mehr Zeit als beim letzen Album genommen haben“, sagt Edge.
Für die lange Vorbereitungsphase war vor allem Bono verantwortlich, der zuletzt in zahlreichen anderen Projekten mitmischte. Er hatte Rushdies Roman „Der Boden unter ihren Füßen“ Korrektur gelesen. Als Dank schrieb ihm dieser die Lyrics zu „The Ground Beneath Her Feet“, dem Soundtrack zu „The Million Dollar Hotel“, bei dem ein weiterer Bono-Spezi, Wim Wenders, Regie führte. Wenn er nicht im Studio saß, reiste der Pop-Diplomat für die Kampagne zur Entschuldung der Dritten Welt rund um den Globus. Bono traf den Papst in Rom, UN-Generalsekretär Kofi Annan in New York oder Gerhard Schröder und Vaclav Havel auf G8-Gipfeln. Nie zuvor hatte sich der missionarische Eiferer, der noch vor sieben Jahren vollmundig den Abschied von Weihrauch und Politik verkündet hatte, so sehr in die Politik eingemischt wie in dem vergangenen Jahr. Das soll so bleiben, auch wenn U2 im März 2001 ihre Welt-Tournee in Miami starten. „Ehrlich, ich würde zwar nie Politiker werden wollen“, versichert der rastlose Sänger, „aber der Schuldenerlass ist ein Langzeit-Projekt.“
Du hast mal moniert, in der Bibel gebe es kaum Kuss-Szenen. Ziemt sich das für einen aufrechten Christenmenschen?
Bono: Ist nun mal Tatsache: Es wird wenig geküsst in der Bibel. Aber es gibt immerhin diverse komische, auch derbe Passagen. Eine meiner Lieblingszeilen ist: „Ihm, der in den Wind pinkelt, wird die eigene Pisse ins Gesicht wehen.“
Du hast kürzlich gar das Vorwort zu einer englischen Neuauflage der Bibel geschrieben. Passt das zum Rock’n’Roll?
Bono: Passt doch sehr gut. Das hat sich ein junger englischer Verleger ausgedacht – er hatte die Idee, die Bibel als Reihe separater Bücher herauszubringen. Und er hat Künstler wie Nick Cave und mich dafür gewonnen, die Einleitungen zu schreiben. Die Bücher verkaufen sich wie warme Semmeln.
Ihr habt angeblich schon mit zwölf die Bibel gelesen. Ein bisschen seltsam ist das schon, wenn sich Teenager mehr für Religion als für Rock’n’Roll interessieren..
Bono: Ich habe ja auch den Koran gelesen.
Aber doch nicht mit zwölf?
Bono: Na gut, da war ich etwas älter. Mit zwölf war ich vor allem an Spiritualität interessiert. Deshalb habe ich die Bibel gelesen. Es gibt es auch keinen Widerspruch zwischen Rock’n’Roll und Religion. Im Gegenteil. Musik hat mit Glauben zu tun. Wenn ein Musiker einen Ton anschlägt, hat er den Glauben, dass er einen weiteren hören wird, der dem ersten folgt – so schreibt man Songs. Deshalb sind die meisten Musiker auf die eine oder andere Weise Gläubige. Leider wird das oft missverstanden, etwa bei den Grammy-Verleihungen. Wenn ich da sitze, denke ich mir oft: „Es muss Gott doch furchtbar peinlich sein, dass diese seichte Scheiße ihm gewidmet wird. Diese unsäglichen Sprüche: ,Ich will meiner Mutter, Schwester und Gott für die Nr. 1-Single danken.‘ 4 Furchtbar. Das hat Gott wirklich nicht verdient.
Sinead O’Connor zerriss einst aus Wut über die Haltung der katholischen Kirche zur Abtreibung ein Foto des Papstes. Dylan dagegen hat für den Papst gespielt, und du selbst hast ihm kürzlich auch deine Aufwartung gemacht.
Bono: Ich habe ihm erst mal’ne coole Sonnenbrille gegeben. Er hat sie auch aufgesetzt sehr zum Entsetzen der anderen Leute im Vatikan. Ich jedenfalls war überrascht, dass er so viel Sinn für Humor hatte. Ich sagte ihm, er sei ein großartiger Showman; aus diesem Grunde hab ich ihm auch die Sonnenbrille gegeben.
Bist Du inzwischen auch in anderen Punkten mit dem Papst einer Meinung?
Bono: Nein. Es gibt wohl kaum jemanden, dem ich bei so vielen Themen – Frauenrechte, Abtreibung, Rechte der Homosexuellen – mehr widersprechen würde als ihm. Aber ich bin in meinem Leben an einem Punkt angelangt, dass ich auch Andersdenkende respektieren kann.
Hast du mit dem Papst gestritten?
Bono: Dazu war gar keine Zeit, und darum ging es auch nicht. Es war ein Arbeitsbesuch. Ich wollte, dass er die Entschuldungskampagne für Entwicklungsländer unterstützt – und das hat er auch gemacht. Ein Foto mit Papst und Popstar hat der Sache sehr geholfen. Ich schulde ihm also was. Ich war auch tief beeindruckt, ab ich sah, wie er sich anstrengte, seine Gebrechlichkeit zu überwinden, um uns treffen zu können. Er versuchte, ohne Hilfe durch den Raum zu gehen. Quincy Jones hatte mich begleitet – er starrte ständig die Schuhe des Papstes an. Die müssen wohl sehr funky gewesen sein. Katholizismus ist nun mal der Glam-Rock der Religionen.
Sind nicht Stars die Heiligen des 21. Jahrhunderts?
Bono: Da hast du wohl Recht. Aber wenn Casinos die neuen Kathedralen und Celebrities die neuen Heiligen sind, ist das ziemlich erbärmlich. Ruhm ist ein bizarres Phänomen. Wir machen mit U2 doch nur das, was wir sowieso gerne tun. Und dafür sind wir total überbezahlt. Es ist verrückt, dass die Leute so interessiert sind an kaputten, selbstverliebten Typen wie uns.
THE EDGE: Der Star-Kult an sich ist ja kein neues Phänomen, aber durch die Massen an neuen Medien ist alles aus der Bahn geraten. Sie stillen offenbar einen diffusen, tiefen Hunger der Leute, zu anderen aufzuschauen, von denen sie meinen, sie seien glücklicher, talentierter. Wir haben immer versucht, diese Grenze nicht zu überschreiten. Aber du kannst es nicht kontrollieren. Wir wollten wegen unserer Arbeit berühmt sein, nicht weil wir berühmt sein wollten. Manchmal kannst du das ausbalancieren, manchmal eben nicht. Das US-Polit-Magazin „George“ hat U2 kürzlich zur „politischsten Band der Welt“ und Bono gar zum „politischen Führer des neuen Jahrhunderts“ gekürt. Fühlt Ihr Euch geschmeichelt?
Bono: Ach was. Ich würde nie im Leben Politiker sein wollen.
Dafür tanzt du zurzeit aber ziemlich oft auf dem politischen Parkett.
Bono: Musik ist und bleibt etwas anderes als Politik. Ein Beispiel: Bill Clinton hat mich in meinen Khakis im Oval Office empfangen, wofür ich ihm dankbar bin. Es ist so, als wäre Musik unter den Türen der Regierungssitze durchgedrungen und hätte Politiker sensibilisiert. Wir haben heute eine neue Generation von Politikern, die in den 60er Jahren groß wurden. Musik ist für sie nicht nur etwas, das sie ins Regal stellen und am Sonntag morgen herausnehmen. Sie war Teil ihres Lebens und hat ihren Blick auf die Welt geschärft. Und deshalb nehmen Leute wie Clinton meine Anrufe entgegen.
Mick Jagger lästerte dagegen in einem Rolling Stone-Interview, es sei naiv zu glauben, dass sich, nur weil die jetzigen Regierungschefs mit Rock aufgewachsen sind, irgendetwas ändern werde.
Bono: Blödsinn. Ich bin nicht naiv. Wer hätte sich vor 30 Jahren vorstellen können, dass der US-Präsident einen wie mich ins Weiße Haus einlädt? Unmöglich. Und das betrifft ja nicht nur die vermeintlich aufgeschlossen Linken. Ich habe in der letzten Zeit Erstaunliches in der politischen Arena erlebt. Um die Aufmerksamkeit auf die Entschuldungskampagne zu lenken, habe ich in den USA auch mit Republikanern gesprochen. Warum? Weil ich den Kongress auf meine Seite bringen wollte. Ich kannte keinen von denen. Dann empfahl man mir diesen erzkonservativen Republikaner, John Kasich. Ein knallharter Bursche, der über das Budget wacht. Er sollte mir ein paar Ratschläge geben. Ich rief ihn also an, und er sagte: „Bist du’s, Bono?“ „Yeah.“ „Welche Radiohead-CD gefällt dir besser, ,0K Computer‘ oder ‚The Bends‘ Ich finde ‚OK Computer‘ besser.“ Da war ich perplex, dass ein vermeintlich verstockter Konservativer Radiohead kannte. Am Ende hat Kasich mich in Washington bei den wichtigen Leuten rumgeführt und mich in meinem Anliegen unterstützt The Edge: Rock’n’Roll hat eine neue Art von Respekt bekommen, vielleicht, weil es diese Musik nun schon einige Zeit gibt. Kunst hat immer schon die Politik beeinflusse. Sie ermöglicht Leuten, jenseits des Machbaren, politische Visionen zu erträumen. Politiker haben sich deshalb oft mit Künstlern ausgetauscht, um wieder ein Gespür dafür zu bekommen, wie die Zukunft aussehen könnte.
Bono: Es gehört zu unserem Job, in der Imagination zu leben, laut in der Öffentlichkeit zu träumen, sehr laut. Der Traum, mit den beiden Benefiz-Konzerten „NetAid“ den Schuldenerlass zu unterstützen, hat sich aber nicht erfüllt. Die Arenen waren trotz Star-Aufgebot bei weitem nicht ausverkauft, die Medien-Resonanz überaus hämisch.
Bono: Mit „NetAid“ hatte ich nichts zu tun. Ich hab da mitgespielt, um weiter für den Schuldenerlass zu werben. „NetAid“ war der Traum eines anderen, nicht meiner. Nur ist das im Nachhinein so dargestellt worden, als sei das Ganze meine Idee gewesen. Ich hab diesen Event vor allem als Einstieg in eine Website für den Schuldenerlass gesehen. Und das hat ja auch geklappt.
Auf dem G8-Gipfel in Prag hast du Vaclav Havel, ein Jahr zuvor in Köln Schröder und Blair die Hand geschüttelt. Sting, auch so ein Gutmensch des Pop, hat dir vorgeworfen, du würdest dich vor den Karren der Politik spannen lassen.
Bono: Die Industrienationen haben sich darauf geeinigt, den Entwicklungsländern 100 Milliarden Dollar zu erlassen – das ist doch kein schlechtes Ergebnis für ein paar Jahre Arbeit, ist das ein Foto wert, Sting? Ich glaube doch. Jetzt geht es darum, das Geld nach der Zusage auch zu bekommen – das ist ein täglicher Kampf mit den Bürokraten. Aber wir haben ein schriftliches Dokument, auf das wir uns berufen können.
Hat dir Schröder überhaupt zugehört oder beließ er es bei dem Foto-Termin?
Bono: Er hat zugehört. Aber wir hatten nicht viel Zeit. Für ihn war das auch eine vertrackte Situation: Er war Gastgeber des Gipfels – und ich protestierte dagegen.
Auf dem Foto wirkt er ganz entspannt.
Bono: Er versuchte es zumindest. Aber Deutschland ist ja ein Paradebeispiel dafür, warum Schuldenerlass richtig ist. Erst mit Hilfe des Marshallplans konnte Nachkriegs-Deutschland aufgebaut werden. Alle, die ein bisschen Grips haben, können nicht ernsthaft gegen diese Kampagne angehen. Nur die Banken sind dagegen – Schuldenerlass widerspricht ihrer Religion.
Sind Banker wichtiger als Politiker?
Bono: Ich habe diverse Banker und Wirtschaftsbosse getroffen, den Chef von Amex etwa, den Präsidenten der Weltbank, James D. Wolfensohn, auch David Rockefeller. Und das werde ich auch weiterhin machen – die Kampagne ist für mich ein Langzeitprojekt. Ich bleibe am Ball – und wann immer ich Banker für mich einnehmen will, bringe ich ihnen einen Gedichtband von Seamus Heaney mit. Das wirkt immer.
Heaney wtrd auch im Songtext von „Peace On Earth“ zitiert. Wie ist er denn Mitglied im Club der von U2 hofierten Dichter geworden?
Bono: Ich kenne ihn ganz gut und habe ihn gefragt, ob wir die Zeile „But hope and history won’t rhyme“ in Anlehnung an eines seiner Gedichte in veränderter Form zitieren dürften. Er hatte nichts dagegen. Denn Heaney hatte nach dem Karfreitags-Friedensabkommen in Nordirland noch hoffnungsvoll gesagt: Dies könne der Moment sein, wenn sich Hoffnung auf Geschichte reimt. Ein großartiger Satz.
Ihr habt mit Burroughs und Ginsberg gearbeitet und seid inzwischen selbst Thema von Literatur. Habt Ihr mal Bukowskis Tagebuchnotiz über den Besuch eines U2-Gigs gelesen? (Kasten rechts – Red.) Bono: Nein. Was schreibt er denn so?
Im wesentlichen sagt er, dass ihm der Jahrmarkt der Eitelkeiten hinter der Bühne ziemlich auf die Nerven ging.
Bono: Das passt zu ihm. Ich erinnere mich noch gut daran, wie er und seine Frau unser Konzert in LA. besuchten. Ein paar Monate später rief er in Dublin an: „Hank hier“, knarzte er ins Telefon, „wollte dir nur sagen, dass ich nicht mehr lange auf dieser Erde sein werde. I’m fucking with doctor death, and doctor death is winning.“ Das war schon seltsam, denn am Telefon hatte ich ihn auch das erste Mal gesprochen. Damals hatte mich Sean Penn in Dublin besucht. Er wusste nicht, dass ich ein Fan von Bukowski war, und ich wusste nicht, dass er ihn kannte. Dann fragte Sean, ob er mal das Telefon benutzen dürfte. Ein paar Minuten später winkte er mich an den Hörer. „Wer ist dran?“ fragte ich. „Hank hier.“ „Hank wer?“ „Bukowski. Wart mal einen Moment, Bono, du solltest mit meiner Frau sprechen, sie will mit dir schlafen.“ Wie sich rausstellte, hatte Linda jedes U2-Konzert in L.A. gesehen. Auf „Zooropa“ haben wir in einem Song eine seiner Gedichtzeilen zitiert: „The days run away like horses over the hills“.
Mit Salman Rushdie seid Ihr auch befreundet. Was reizt Euch an diesen literarischen Schwergewichten?
Bono: Salmans Zeilen sind wie Melodielinien, du erkennst die guten aus großer Entfernung. Ich interessier mich nun mal für Literatur, Film, Politik und Religion. Ich hör mich überall um, auf der Suche nach einer großen Melodie, einer Idee. Ich mag es, wenn sich all diese Bereiche vermischen.
The Edge: Es ist für uns natürlich, uns mit Literaten wie Salman oder Filmemachern wie Wim Wenders auszutauschen. Es hält dich wach.
Während Bono mit Wenders drehte oder als Aktivist die Welt bereiste, hatte sich die Arbeit am neuen Album ständig verzögert. Geht Euch Bonos Polit-Trip nicht manchmal auf den Keks?
The Edge: Manchmal mussten wir halt notgedrungen ohne Bono aufnehmen. Aber die Sessions, bei denen nur drei von vieren spielten, waren nicht gerade die aufregendsten. Du kommst nicht so schnell voran. Aber wir haben Bono immer unterstützt. Und die Verzögerung hat dem Album nicht geschadet Vielleicht brauchten wir die Zeit. Bono: Letztlich hat diese Phase, die Möglichkeit, all die anderen Projekte machen zu können, der Band und mir Optimismus gegeben. Was dazu führte, dass wir uns für das Album automatisch mehr Zeit nahmen als bei „Pop“. Das hatten wir, als die Deadline näher rückte, nicht so vollendet, wie wir’s uns gewünscht hätten. Diesen Zeitdruck wollten wir vermeiden. Wir haben uns gesagt: Wir müssen elf bessere Songs als beim letzten Mal schreiben.
Soundbites der neuen Songs habt Ihr schon vor Wochen kostenlos ins Netz gestellt – ein ungewöhnlicher Schritt in einer Zeit, da die Musikbranche hysterisch um MP3-Börsen wie Napster debattiert.
The Edge: Es gibt revolutionäre Entwicklungen, die man sich vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können. Man muss dem Internet, auch Napster gegenüber offen sein. Der Versuch, das zu stoppen, ist idiotisch. Du kannst das nicht mehr stoppen. Also sollten wir es konstruktiv nutzen. Das vermeindiche Bedrohungspotenzial ist eh nur gering. Die hitzige Debatte erinnert mich an die 80er, als man private Cassettenmitschnitte zu stoppen versuchte. Die Befürchtung, deshalb würde niemand mehr Alben kaufen, hat sich auch nicht bewahrheitet. U2 würden also nicht wie Metallica gegen Napster klagen?
The Edge: Auf keinen Fall. Ich halte Napster für eine positive Sache. Computer und Internet sind die Zukunft. Die Plattenfirmen müssen sich fragen: „Wie können wir die Leute dazu bringen, den Computer so zu nutzen, dass sie Musik hören.“ Aber den Computer werden wir nicht mehr los.
Nun ist die Industrie nicht nur wegen Napster verunsichert. Nachdem immer mehr vermeintliche Umsatzgaranten in der Versenkung verschwinden, sind die kommerziellen Erwartungen an ein neues U2-Album immens hoch. Ist es nicht bizarr, ab eine der letzten Milchkühe der Branche hofiert zu werden?
The Edge: It’s a dirty ob, but someone’s got to do it. Im Ernst: Wir haben uns nie von solchen Erwartungen unter Druck setzen lassen. Wir machen, was wir machen – das Business-Gerede lassen wir im Studio nicht an uns ran.
Bono: Ich sehe das so: Es ist der Job von Rock’n’Roll, den Pop-Charts in den Arsch zu treten. Wenn Rock den Wettbewerb damit scheut, ist es nicht mehr so interessant. Die großen Momente der Rockmusik sind von Singles der Beatles, der Stones, Who, Kinks, Sex Pistols, Clash oder Nirvana eingeleitet worden. Wenn Rockmusik diesen Platz nicht mehr besetzt, gerät sie in Vergessenheit. Für mich besteht das neue Album aus elf Singles. Wir hatten die Disziplin, ins Studio zu gehen und große Melodien zu schreiben.
Und damit diesmal nichts schiefging, wurden mit Steve Lillywhite, Brian Eno und Daniel Lanois gleich drei der ehemaligen Erfolgs-Produzenten von U2 zusammengetrommelt?
The Edge: Wir hatten damals mit allen dreien gearbeitet, weil sie etwas einbrachten, das in der Band nicht vorhanden war. Und deshalb haben wir sie auch jetzt ins Studio geholt. Brian ist der Intellektuelle, der uns oft kritisiert. Daniel ist gefühlsbetont, ein Soul-Typ und Fan unserer Musik. Und Steve ist ein Genie darin, die Songs mit seinen Mixen zum Atmen zu bringen. Ohne die drei hätten wir dieses Album nie so hinbekommen – und dennoch ist es in der Essenz ein typisches U2-Werk.
Bono: Die Ironie ist, dass weder Brian noch Daniel Musik mögen, die große Massen anspricht. Aber genau das haben wir diesmal gemacht. Wir lieben es nun mal, unsere privaten Gedanken über ein PA-System hinauszublasen. Der Widerspruch zwischen Intimität und weltweiter Wirkung – das ist der Kick.
Im Song „New York“ singt Ihr von eitlem Lebensabschnitt ohne Kicks, von der Midlife-Krise. Seid Ihr jetzt soweit?
Bono: Ich hatte meine Midlife-Krise mit 19. Das ist also keine Autobiografie. Es handelt von einem Typ, der älter wird und in New York das nachholen möchte, was er im Leben verpasst hat. Er ist das absolute Gegenteil von mir: Ich hatte ein Leben mit Parties und exzentrischen Leuten en masse. Ich hätte nichts dagegen, von diesem Trip wieder runter zu kommen.
Und was könnt Ihr da machen – öfter die Bibel lesen?
The Edge: Ich lese sie immer noch regelmäßig.
Und wann zuletzt?
The Edge: Muss ’nen Monat her sein. Zuletzt hatte ich kaum noch Zeit Bono: Es frustriert mich, dass ich heute, da mir diese Frage gestellt wird, die Bibel ausnahmsweise mal nicht gelesen habe.
Und sonst liest du sie jeden Tag?
Bono: Ich versuche es zumindest. Aber heute bin ich verkatert, da bringt es nichts, die Bibel zu lesen. Ohne die Bibel gäbe es keinen Bob Dylan. Das Buch steckt voller kraftvoller Bilder. Es ist wie ein Spiegel – du liest es und siehst dein Gesicht, das manchmal verzerrt ist, manchmal klar. Ich lese, weil ich ein hoffnungsloser Christ bin.
Inzwischen liegt ja in jedem Hotelzimmer ein Exemplar. Blättert Ihr schon mal nach einem Konzert?
The Edge: Ich habe sogar mal eine mitgehen lassen.
Bono: Na großartig. Sollte noch jemand dran gezweifelt haben, dass wir echte Rock’n’Roller sind – hier ist der Beweis: Wir klauen Bibeln aus Hotelzimmern!
The Edge: Es war wohl eher ein Versehen – das Buch muss irgendwie in meinen Koffer gerutscht sein.