Tipp: Die Wolken von Sils Maria :: Regie: Olivier Assayas
Eine Reise in die Berge vermittelt immer das Gefühl, zu etwas Ursprünglichem zurückzukehren, denn es ist eine Auszeit vom Trubel der Metropolen: Je höher sich die Berge auftürmen, desto kleiner werden die Empfangsbalken auf dem Handy, die Cortado-Kurve sinkt exponentiell mit der Zahl der Tafeln, auf denen frische Buttermilch feilgeboten wird, unter „freshly organic“ versteht man lediglich den warm dampfenden Kuhdung. Und selbstverständlich fühlt man sich der Natur verbunden, wenn man den Blick über die schneebedeckten Gipfel schweifen lässt.
Die Schauspielerin Maria Enders (Juliette Binoche) ist gemeinsam mit ihrer Assistentin, Valentine (Kristen Stewart), auf dem Weg nach Sils Maria, einem kleinen Ort in der Schweiz, um dort das Lebenswerk des Dramatikers Wilhelm Melchior zu ehren. Mit 18 Jahren feierte sie in seinem Stück „Maloja Snake“ ihren internationalen Durchbruch. Darin spielte sie die Rolle der jungen Sigrid, die ihrer älteren Vorgesetzten, Helena, erst den Kopf verdreht und sie schließlich in den Selbstmord treibt. In Sils Maria angekommen, trifft sie den gefeierten Regisseur Klaus (Lars Eidinger), der sie bittet, in seiner Neuinterpretation von „Maloja Snake“ die Rolle der Helena zu spielen. Maria, die sich zeitlebens mit Sigrid identifiziert hat, weigert sich zunächst, lässt sich dann aber doch auf das Angebot ein. Die Rolle der jungen Verführerin soll das skandalumwitterte Hollywood-Sternchen Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) übernehmen. Doch während der Proben mit ihrer Assistentin, Valerie, in der Abgeschiedenheit der Berge verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen Maria und ihrer Rolle.
„Die Wolken von Sils Maria“ ist eine feinsinnige Kritik des Kulturbetriebs, in der der französische Regisseur Olivier Assayas vom Kollidieren von Eigen- und Fremdwahrnehmung erzählt und sich auf die verschlungenen Pfade der Erinnerung begibt. Erst kürzlich brillierte Julianne Moore als alternde Diva in „Maps To The Stars“, in dem Regisseur David Cronenberg mit ätzendem Spott Hollywood die eigenen Eitelkeiten brachial um die Ohren haute. Assayas dagegen lässt den Promi-Kult und die Mechanismen der Kulturszene fast beiläufig implodieren. Seine Maria Enders ist keine Furie mit Allüren, sondern eine Schauspielerin der alten Schule, die sich über die Qualität ihrer Rollen definiert und trotzdem den Spagat zwischen Europa und den USA gemeistert hat.
Parallelen zu Juliette Binoche, der Assayas die Rolle auf den Leib geschrieben hat, sind dabei unübersehbar. Aber auch bei den anderen sind Aspekte ihrer realen Biografien zu erkennen: Wenn Kristen Stewart als Valentine mit Maria über einen Sci-Fi-Hollywood-Blockbuster diskutiert und zu erklären versucht, dass hinter all den Superhelden-Kostümen, Laserwaffen und Raumschiffen auch ein tiefer humanistischer Ansatz erkennbar sei, hat man das Gefühl, dass Stewart diese Defensivhaltung durch ihre „ Twilight“-Rollen im realen Leben durchaus vertraut ist.
Überhaupt entfaltet sich der Reiz des Films vor allem auf verbaler Ebene, und wenn bei den Diskussionen Marias Hochkulturprägung auf Valentines Gossip-Affinität prallt, entspinnt sich ein wunderbarer Diskurs über die Frage nach dem Wesen der Kunst und der Gültigkeit einer Trennung von Unterhaltung und Anspruch. Glücklicherweise fühlt Assayas sich beiden Bereichen verpflichtet, und so kommen die Dialoge niemals akademisch daher, sondern sind von einer unaufgeregten Alltäglichkeit und von einem feinsinnigen Humor durchzogen.
Zudem verfolgt „Die Wolken von Sils Maria“ ein komplexes Erzählkonzept: Es ist ein Spiel mit Identitäten, bei dem sich die Figuren immer mehr ineinander verschachteln und bei dem sich immer stärker Doppelungen erkennen lassen. So ist die Newcomerin Jo-Ann Ellis eine tabloidgebeutelte Version der jungen Maria, wie Valentine Züge der Figur Sigrid trägt, mit der wiederum Maria sich noch immer identifiziert. Hinzu kommen die irrlichternden Versionen von Maria im virtuellen Raum, die eine schier unendliche Fülle von Wahrheiten verbreiten.
Virtous verknüpft Assayas diese Ebenen miteinander und schafft so eine eigenwillige Atmosphäre, in der die Emotionen oft über Bande gespielt werden. Visuell kontrastiert wird das Geschehen durch wunderbare Tableaus der Gebirgszüge, die mit ihrem imposanten Erscheinungsbild von Beständigkeit, Vergänglichkeit und Ursprünglichkeit erzählen. Und wenn Maria in die Berge aufbricht, um ein seltenes, unerklärbares Wolkenphänomen – die sogenannte „ Maloja-schlange“ – zu beobachten, dann wird die flüchtige Wolkenformation zum grundlegenden Symbol des Films: nicht greifbar, nicht rational erklärbar, ständig in Bewegung. Wie das Wesen des Menschen.