Joanna Newsom“Have One On Me“
Die Preisfrage zuerst: Klingt Joanna Newsoms neue Platte wie a) die überambitionierte Semesterarbeit einer Waldorfschülerin, b) ein auf authentischen Instrumenten gepicktes König-Arthur-Musical oder c) ein majestätisch geflochtener Songzyklus, der endlich alle Grenzzäune zwischen Popmusik, Volkslied und Outsider-Art zu flüssigem Pamp schmelzen lässt?
Einige Missverständnisse hat die Kalifornierin ja schon vorab aus der Welt geräumt. Als sie vor sechs Jahren mit Harfe, Kinderquäken und viel zu roten Lippen auf die Bildfläche trat, passte sie nur zu gut in die Kategorie „Freak“. Ein Freak wie sie kann aber auch Noten lesen, Epen dichten, für Armani modeln. Den nötigen Respekt verschaffte ihr 2006 das ornamentale Großwerk „Ys“ – und weil es jetzt keinen mehr wundern darf, dass diese verflixt schöne Frau mit den Weidenkätzchen im Haar eine kapitale Musikerin ist, könnte man ihr drittes Album „Have One On Me“ einfach als das nehmen, was es ist: eine Kollektion außerirdisch faszinierender Songs, die den Bogen vom mittelalterlich zirpenden Schellentanz über keltische Wiegenlieder bis zum Pianistinnen-Jazzpop der Gegenwart schlagen. Zerbrechlich im Klang, wundersam gemaunzt, poetisch ungeheuer tragfähig. Aber das allein wäre doch zu öde. Natürlich nervt Newsom immer noch. Und erst das macht dieses Dreifachalbum wirklich, wirklich groß.
Rund zwei Stunden dauern die 18 Stücke, und obwohl im Schichtwerk einige höchst mixtapetaugliche Singalongs stecken, gibt es doppelt so viel Ausuferndes, provokant Rätselhaftes und Gewispertes. Bei dem jeder, der sowieso schon an ihren Lippen hängt, mit den Ohren gefährlich nah rankommen muss.
In „’81“ rennt sie noch nackt durch den Garten Eden, duscht in den eigenen Harfentönen wie im Rasensprenger. Dirigiert in „Good Intentions Paving Company“ einen brummenden Gospel-Soul, der diverse Grammy-prämierte Grazien wie Springmäuse aussehen lässt. Und haucht dann, wie die träumende Melkmagd, mit „Baby Birch“ einen zehnminütigen Nachtwalzer, in dem außer Sternguckerei fast nichts passiert. Bis sie am Ende des Songs ein Karnickel häutet und die Band doch noch mit Pauken und Mandolinen zuschlagen darf. Die Begleitmusik ist weit weniger markant als auf „Ys“: Nur wenn Newsom von Klavier oder Harfe aus den Einsatz gibt, lüftet sich kurz der Vorhang.
Es geht auf „Have One On Me“ aber auch nicht um Abwechslungsreichtum oder Anmut – viel mehr darum, dass hier eine Künstlerin ernsthaft etwas zu erzählen, etwas mitzuteilen hat, fast überschäumt vor teils konzisen, teils eben auch umständlichen und komplex aneinanderklebenden Melodien, Bildern und Gedanken, über Lola Montez und Pocahontas, Geschlechterkampf und amerikanische Landnahme, Gefühl, Mathematik und die Frage, was eine Hundeschnauze über die Existenz Gottes aussagt. Und Joanna Newsoms Universum expandiert weiter.
Um die Frage vom Anfang zu beantworten: „Have One On Me“ klingt vor allem wie d) die erste Mädchenplatte, an deren Rand man sich die Finger blutig schneiden kann. Und wenn ihr euch nur ein bisschen Mühe gebt, ihr Faultiere, könnt ihr sogar dazu tanzen. (Drag City)
Joachim Hentschel