Radiohead
Ok Computer
EMI
Wir kamen mal wieder spät nach Hause in jenem Winter 1993, und wie üblich stellten wir den Fernseher ein und schauten MTV. Den britischen Schluffi mit dem Triefauge, der sich dort gerade einen perfekten Körper wünschte, kannten wir damals noch nicht, aber die Hymnik dieses verspäteten Manifests für die so genannte Generation X nahm uns gefangen – und ließ uns nie wieder ganz los.
Bereits im Jahr davor hatten Radiohead „Creep“ veröffentlicht, jedoch ohne größeren Nachhall. Doch ähnlich wie zuvor „Smells Like Teen Spirit“ erfuhr das herrliche Wimmerlied nun eine späte Würdigung durch eine inzwischen verschlossene Hintertür- das Nachtprogramm des damaligen Musiksenders MTV.
Das dazugehörige Album kauften wir gleich, doch zeigte „Pablo Honey“ (***)überwiegend eine in ihrer rührenden Hilflosigkeit fast bemitleidenswert wirkende, zwischen Grunge und Brit-Pop taumelnde Band auf der Suche. Stil, gar ein eigener, war jedenfalls kaum erkennbar. Die wichtigste / innovativste / größte Band des Jahrzehnts? Hören Sie mal „Anyone Can Play Guitar“! Es bleibt: „Creep“. So hatte man es in Erinnerung, so ist es.
Ach ja, das selige Schwelgen in Nostalgie! Wichtiger scheint indes ein anderes, nicht gar so weit zurückliegendes Ereignis zu sein. Am 10. Oktober 2007 hatten Radiohead bekanntlich in einer Aufsehen erregenden Aktion nicht nur neue Distributionswege von Musik im größeren Stil beschritten. Sondern die Veröffentlichung von „In Rainbows“ im Internet war auch der endgültige Schlussstrich unter die zerrüttete Geschäftsbeziehung der Band zu ihrer Plattenfirma. Seither nimmt man bei EMI periodisch Aderlässe am Backkatalog der Briten vor, zuletzt beinahe im Monatstakt.
Und so liegen nun, nach dem Box-Set und der Best-Of-Kopplung, nach diversen Vinyl-Editionen und einer DVD die ersten drei Alben in Sammlereditionen vor. Jeweils ergänzt um sämtliche B-Seiten, parallel erschienene EPs wie „Drill“ („Pablo Honey“) und „My Iron Lung“ („The Bends“), BBC-Material sowie- in einer aufwendigeren „Special Collectors Edition“- je einer, allerdings ziemlich kurzen DVD mit Promo-Videos und Live-Ausschnitten.
Es gäbe Grund, sich zu beschweren, und Thom Yorke selbst lässt kaum eine Gelegenheit aus, dieses auch zu tun. Klanglich nachbearbeitet wurde abermals nichts, für Spätgeborene ergibt sich immerhin die Chance, zum Spottpreis im Komplettbausatz zu erstehen, wofür man damals eine Menge laufen, suchen und sparen musste. Und natürlich ein weiteres Mal die Möglichkeit, die atemberaubende Entwicklung nachzuvollziehen, die Radiohead nach dem missglückten Debüt nahmen.
Schon „The Bends“ (****) war ein wahrer Quantensprung -und klingt aus heutiger Sicht lustigerweise viel weniger gefangen in den Neunzigern, als man gedacht hätte. Die melodiöse Anmut von „Fake Plastic Trees“ und „(Nice Dream)“, die „Dear Prudence“-geschulte Psychedelik von „My Iron Lung“, die simple, aber effektive Brillanz von „High And Dry“- allein mit diesem Lied erfanden Radiohead immerhin Coldplay und Travis– haben Bestand. Und „Street Spirit“ nimmt bereits manches aus „OK Computer“ vorweg.
Anderes, wie etwa „Bones“, wurde freilich doch zu sehr im damals typischen Alternative-Rock-Gitarren-Gedröhne ertränkt. Trotzdem keineswegs jenes One-Hit-Wonder wie Dodgy und Shed Seven, das der forsche Rezensent dieses Magazins damals in einer denkwürdigen Ein-Stern-Rezension vermutete, sondern ein äußerst vitales Songalbum, das vor allem all jenen bis heute heilig ist, die der Band die spätere Kunstrock-Evolution nie verziehen haben.
Ein erster Schritt in diese Richtung: das aus – bisweilen naiver- Zivilisationskritik sowie Kraut-Rock, Prog- und Pink Floyd-Versatzstücken montierte „OK Computer“. Thom Yorke nannte Ennio Morricone, Miles Davis und die Beach Boys als weitere Einflüsse, vor allem aber war das Werk die endgültige Geburt der Band Radiohead – künstlerisch und kommerziell. Am erstaunlichsten die Entwicklung, die Yorke selbst als Sänger seit „The Bends“ genommen hatte. Seinetwegen wurden Radiohead stets als Jammerlappen gescholten. Man tat sich ja allgemein relativ gern selbst leid in jenen Tagen, aber keiner wusste seine innere Isolation in derart unvergängliche Melodien zu kleiden wie dieser Mann.
Und wer wollte sich ernsthaft der Anmut etwa des „Subterranean Homesick Alien“ verweigern, der überirdisch hingehauchten Klage „Exit Music (For A Film)“ und anderer Verzweiflungsgesänge und Preziosen- von Jonny Greenwoods Klangexperimenten und weitgehend rockbereinigten Gitarren kongenial unterlegt. Wie alle großen Platten hat auch „OK Computer“ kleine Schwächen, wie etwa „Electioneering“.
Und auch zwölf Jahre später zerfransen die kreischenden Gitarren im Mittelpart „Paranoid Android“ immer noch mehr, als dass sie die ansonsten makellose Großtat bereichern. Und natürlich klingt die Spießerschelte „Fitter Happier“ aus heutiger Sicht ein bisschen stereotyp. Aber wie erhebend danach das Stück „Lucky“, und was für ein Schlussakkord ist „The Tourist“. Für Radiohead selbst war das vermeintliche Meisterwerk jedoch nur ein Zwischenschritt. Danach wurde es sogar noch besser. (EMI)