Album des Monats: Chrissie Hynde :: Stockholm
Die Landesfarben der Ukraine auf den immer noch schönsten Wangenknochen des Rock’n’Roll? Chrissie Hynde hält sie in klassischer „Na, wat willste“-Pose in die Kamera. Und wedelt hinten sogar mit der Flagge. Oder ist’s doch die schwedische? Jedenfalls lässt der Cover-Auftritt für ihr erstes Album ohne Pretenders-Schild an das Del-Amitri-Wutlied „Food For Songs“ denken, in dem Justin Currie 1995 die Kolleg(inn)en ins Visier nahm, die in der Misere anderer Menschen nur Material für ihre Kunst sehen. Große Provokation oder große Heuchlerei?
Chrissie Hynde, bald 63, versteht sich vermutlich als letzte große Provokateurin der Zunft. Leider zielte sie dabei zuletzt recht reaktionär auf ihrer eigentlich unwürdige easy targets: Alkohol/Nikotin-Sucht, Casting-Shows, eine Miley Cyrus, die einfach noch kein Recht zum Ritt auf der Abrissbirne haben konnte, weil sie ja noch „kein Leben gelebt“ habe. Wie viel Leben Sid Vicious 1977 wohl schon gelebt hatte, bevor er seines dann schnell wegwarf?
Die Musik auf „Stockholm“ dürfte allerdings nur Pretenders-Fans provozieren, die Martin Chambers’ Stahlmantel-Schlagzeug vermissen und ihrer Göttin zu laues Badewasser attestieren. Aber den „Ah-Ha“-Schmacht-Pop des Openers „You Or No One“ lässt man sich von dieser immer noch großen Romantikerin against all odds gern gefallen. „You’re The One“ nur wenig später dann eher nicht. Co-Autor/Produzent Björn Yttling konnte/wollte ihr so was nicht ausreden, auf ihrem Weg zum Power-Pop „à la Abba meets John Lennon“, wie Hynde selbst sagt. Der natürlich nicht in Kiew samt Garagenband entstand, sondern mit den schwedischen Pop-Fachkräften Peter, Björn & John in der titelgebenden Landeshauptstadt.
Damit’s zwischendurch auch ohne Chambers mal richtig kracht, lotste Hynde sogar Neil Young nach Stockholm, dessen Verstärker zwischen zwei Shows wohl noch warm war. Sein Gebratze mag im Kontext ein Fremdkörper sein, passt aber doch gut zu „Down The Wrong Way“, wenn Hynde einer gefallenen Porno-Queen die schöne Hookline singt: „I’m back on gasoline alley/ The smoke looks like a misty valley …“
Weitere Leuchtpunkte in der „Stockholm“-Skyline: die zackige Single „Dark Sunglasses“, das prall mit vergeblicher Liebe gefüllte „In A Miracle“, die zarte Spieluhren-Melodie von „Tourniquet (Cynthia Ann)“. Auch mit 62 singt Chrissie Hynde immer noch wie Kleopatra. Und ihr Solodebüt ist ein gutes Album – aber für ein ganz großes bräuchte sie wohl ein echtes Gegenüber, einen Gegenspieler, der sie auch mal provoziert. Und dabei keine Angst hat.
Jörg Feyer