Katherine Dunn :: Binewskis. Verfall einer radioaktiven Familie
„Traumkindchen“ nennt der große Zampano Al, Vater und Zirkusdirektor in Personalunion, seine Geschöpfe – „Alptraumkindchen“ würde besser passen. Arty, der Aquaboy, der talentierteste unter den Mutantenschaustellern, weiß das schon ganz früh. Er liebt Gruselgeschichten, nicht weil er sich fürchtet, sondern weil er sich mit den Monstern und Dämonen identifiziert. „Wir sind die, die den Normalen in ihren Alpträumen erscheinen.“
Am Anfang steht eine geniale Geschäftsidee. Weil Al Binewskis Wanderzirkus kurz vor dem Bankrott steht, verabreicht er seiner Frau, Lil, radioktive, entsprechend mutagene Medikamentencocktails und erschafft somit eine bunte Freakfamilie, die den Laden wieder auf Vordermann bringt. In dieser Grand-Guignol-Gegenwelt herrschen ganz ähnliche soziale Hierarchien und Machtstrukturen, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Am meisten Ansehen genießt der mit den schwerwiegendsten Veränderungen. Die vierhändig Klavier spielenden siamesischen Zwillinge sind reputierlich, Oly, die bucklige, glatzköpfige Albinozwergin indes leidet darunter, dass sie zu normal ist. Sie darf die anderen nur ankündigen. Arty hat Flossen anstelle von Armen und Beinen und avanciert zum Star dieses Kabinetts „innovativer Naturkunst“. Vor allem wegen seiner Qualitäten als Demagoge. Er bringt erst den Zirkus unter seine Kontrolle und gründet später sogar eine Religion, deren Anhänger sich die Gliedmaßen amputieren. Von diesen längst vergangenen Tagen berichtet Oly, deren ehemalige Tätigkeit als Ansagerin sie denn auch für die Rolle der Erzählerin dieses im Gegensatz zum grotesken Inhalt eher konventionell erzählten Romans prädestiniert. Dass er als unübersetzbar gegolten haben soll, ist bloße Klappentextlyrik. Es gibt auch noch eine weitere Handlungsebene: In der „Jetztzeit“ muss Oly ihre Tochter vor dem Zugriff einer Millionärin beschützen, die Frauen mit Geld überredet, sich zu verstümmeln, damit sie ihre wahren intellektuellen Talente entdecken. Das Buch gehorcht den gängigen Konstruktionsprinzipien von weniger ambitionierten Mainstream-Serien, die dasselbe Thema in verschiedenen Parallelhandlungen durchspielen. Insofern ist Dunns „Binewskis“ eine total konstruierte, souverän komponierte Romansatire, die allerdings formal durchaus mehr Freak Show hätte vertragen können. Weil man ihr die Machart so deutlich ansieht, lockt sie einen emotional nicht richtig aus der Reserve. (Berlin, 22.99 Euro)