Poliça Shulamith :: Vor einem Jahr war Poliça der digitale Fingerzeig in die analoge Welt. In den mitreißenden Konzerten erlebte man eine „richtige“ Band mit einem virtuosen Bassisten und einem von zwei Schlagzeugen bestimmten Rhythmus, über dem Channy Leaneagh ihre kryptisch-kargen Verse sang wie eine Sade aus Kristall. Auf dem Debütalbum klangen sowohl die elektronisch manipulierte Stimme Leaneaghs als auch der digital disziplinierte Sound ihrer Band deutlich technoider, aber eben auch: großartig. „Give You The Ghost“ war eines der wichtigen Alben 2012.
„Shulamith“ ist anders. Es ist der im August vergangenen Jahres gestorbenen Feministin Shulamith Firestone gewidmet, die der „Tyrannei der biologischen Familie“ das Ideal einer androgynen Kultur und einer vom Geschlechter-Dualismus befreiten Gesellschaft entgegenhielt. Firestone war eine sich in den 60er-Jahren radikalisierende Künstlerin, deren Schriften in den Nullerjahren eine kleine Renaissance erlebten und auch Leaneagh faszinieren: Das irritierende Albumcover zeigt den rotverschmierten Hals einer Frau und darf wohl als Verweis gelesen werden. Auch im Video zu „Tiff“, dem Schlüsselsong des Albums, fließt Blut. Eine wohlig und wehmütig schunkelnde Digitalballade -an der übrigens Bon Ivers Justin Vernon beteiligt ist -, die von der Dualität zweier Frauen spricht und klaustrophobische Assoziationen heraufbeschwört, die von den Bildern des Videos noch übertroffen werden: Hier schlägt Leaneagh ihre Doppelgängerin, ihr abgespaltenes Ich, die Schreie überlagern die Musik. Zu Folterszenen, die in Abu Ghraib spielen könnten, singt die kurzgeschorene Künstlerin: „Make a pact with my secret son/ Have the bullet, he has he gun.“ Das ist schön, das ist quälend -und das Motiv des Albums.
Das beginnt gleich mit einem Ausrufezeichen:“Chain My Name“, ein treibender, metallischer Popsong, in den Höhen knisternd und flirrend. Er drängt ins Radio, mehr als alles, was Poliça bisher gemacht haben. „Smug“ schließt dann aber nahtlos an die Downbeat-Tracks des Debüts an, „Vegas“ hat die gleiche Temperatur, doch hier steht Leaneaghs deutlich weniger manipulierte Stimme im Vordergrund, und Chris Bierdens Bass erinnert einmal mehr an Mick Karn, den grandios-melancholischen, früh verstorbenen Bassisten von Japan. So geht es weiter: runtergepitcht, wehmütig; verweht wie in „Warrior Lord“, dräunend wie in „Very Cruel“.“Spilling Lines“ jagt dann noch mal das Tempo hoch – Synthie-Pop und das, was man mal Electronic Body Music nannte, fliegen als Begrenzungspfosten vorbei.
Zwei Dinge werden deutlich: Poliça sind heute mehr Band als Projekt und bewegen sich sachte weg vom Post-Dubstep-Kontext der Anfangstage. Gleichzeitig dominieren Channy Leaneagh und ihr depressiver Downbeat alles. Aber am Ende einer langen Nachtfahrt in Moll dann plötzlich eine Leichtigkeit, die überrascht: „I Need $“ pluckert heiter zart -und hadert doch auch mit dem bleischweren Leben. Einmal zu viel. (Memphis Industries) SEBASTIAN ZABEL
The Wave Pictures