Schluckspecht :: Peter Wawerzinek
Es war ein später Triumph, als Peter Wawerzinek 2010 im Alter von 55 Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann und sein Roman „Rabenliebe“ anschließend zum Erfolg wurde. Er hatte das Trauma seines Lebens, als Kind von der Mutter verlassen und von seiner Schwester getrennt worden zu sein, zwischen zwei Buchdeckel gebannt. In seinem neuen, ebenfalls autobiografisch gefärbten Roman „Schluckspecht“ macht er sich daran, einen weiteren Dämon zu bezwingen: den Alkohol. Man muss diese Geschichte als Komplementärstück zu „Rabenliebe“ lesen, denn die Sucht und das Sehnen hängen eng zusammen in Wawerzineks Romanen.
Und wieder beginnt der Ich-Erzähler in der Kindheit, stellt uns Tante Luci und ihren Mann, den er nur Onkelonkel nennt, vor. Bei den beiden wächst der Ich-Erzähler im Mecklenburgischen auf, nachdem ihn seine Eltern, beide Schauspieler – sie: irr und lolitahaft, er: ein Großkünstler und Schwerenöter – verstoßen haben. So warmherzig und empathisch, so kurios und komisch hat man in der deutschsprachigen Literatur schon sehr lange keine Figuren mehr geschildert bekommen. Wawerzinek kriecht ihnen unter die Haut und in die Sprache hinein. Die büroklammerdürre, resolute, in Erregung wie Janis Joplin kreischende Schwester seines Vaters liebt er innig, zum schweigsamen Onkel, der erst redselig wird, wenn er seine Erinnerungen an den Russlandfeldzug im Schnaps ertränkt, hat er ein distanziertes Verhältnis. Die Tante verteufelt den Alkohol, trinkt nur ab und zu einen Nusslikör und prostet dem Jungen ungarisch mit „Egészségedre Palinka“ zu, was der nicht versteht, ihm aber ein teures Geheimnis ist wie der Schluckspecht, der Wippvogel, der am Fenster steht und immer wieder an einem Glas Wasser nippt, ohne dass man ihn anstupsen muss. „Werd bloß kein Schluckspecht“, sagt die Tante, doch um den Jungen, der Geheimnisse liebt, ist es da schon geschehen. Er nascht den Eiweißschaum vom Rumpudding der Tante und gerät bald in einen regelrechten Rumpuddingwahn, er liebt es, wie die Tante das Wort Rumtopf ausspricht, und er nascht nach Festen, wenn Onkelonkel schon schlummert, aus der Fruchtbowlenschüssel die in Alkohol getränkten Pfirsiche.
Im Partykeller eines Schulfreundes, dem Sohn eines Mostfabrikanten, treffen sich die Jungs – angeblich zur Bandprobe, in Wahrheit zur Mostprobe und zum Radiohören. „Wie die Welt aushalten, die nicht sonderlich berauschend ist, als ohne Rausch?“, beschreibt Wawerzinek diese Saufereien im Sozialismus. „Man muss sich schädigen, weil der Staat die Beschädigten nicht braucht. Saufen, der einzige Protest, zu dem die Jugend fähig ist.“ Dann muss der Junge ins Internat in der Kreisstadt, hört mit seinen Zimmergenossen Platten – The Who, Captain Beefheart, Zappa – und geht zum Trinken in die Broilerstube. Auf das Bierglas starrend erkennt er wie in Bernstein eingeschlossen das Paradies seiner Kindheit: „Es ist die Farbe von Honig, den ich aus der Wabe gesogen und vom Finger gelutscht habe. Und die kleinen Blasen im Glas, die emsig aufsteigen, sind Wasserfontänen aus dem Gartenschlauch, mit dem uns Tante Luci bespritzt hat, wenn der Sommer heiß war.“
Die Erinnerung und das Saufen gehören zusammen für den Jungen, so wie bei Wawerzinek das Erzählen und der Rausch eins sind. Die atemlose, um die Kindheit kreiselnde Prosa, die durchsetzt ist von Gedichten, volkstümlichen Weisen und populären Songs, erinnert manchmal gar an Van Morrisons große Versenkungen wie „Take Me Back“ oder „On Hyndford Street“.
Und so ist es eine Passage von Peter Handke über eben diesen seinen Lieblingssänger, die Wawerzineks die eigene Erinnerung und das kindliche Staunen beschwörenden Tonfall am besten trifft: „Seine Stimme war gleich mächtig, ohne laut werden zu müssen. Sie kam nicht aus dem Inneren seines Brustkorbs, sondern bestand zunächst unabhängig von ihm als eigener, fester, dabei nirgends zu ortender Körper. Die Stimme ertönt nicht als Gesang: Sie machte sich eher hörbar als die Laute eines, der nach einem langen, elenden, unaussprechlichen Brüten plötzlich loslegte.“
Nur ist es natürlich der andere Morrison, der dionysische Echsenkönig, zu dem sich der Heranwachsende in „Schluckspecht“ hingezogen fühlt, wenn die Welt sich um ihn zu drehen beginnt wie ein Karussell. Seine Jugendfreunde springen irgendwann ab, machen Ernst mit ihrem Leben, und an ihre Stelle treten Sauf kumpane, denn in der Kneipe schließt man keine Freundschaften, man trifft sich. Der junge Mann arbeitet als Totengräber und als Hausmeister, als mit Hans-Moser-Imitationen die Fahrgäste unterhaltender Mitropa-Kellner und schließlich in der Bildschirmröhrenherstellung, oder, wie er sagt: „an Bildschirmen“. Seine Tante glaubt darauf hin, er schreibe fürs Fernsehen, wo er doch – ganz im Gegenteil – jeden Abend am nächsten Filmriss arbeitet, Peinlichkeit auf Rausch, Rausch auf Peinlichkeit folgen lässt und isoliert von allem und allen in einer Berliner Theaterkantine sitzt. „Ich rede mit Kippenberger, der am Suff gestorben ist, und George Best, dem Fußballstar, der sich totgesoffen hat. Und rede noch mit ganz anderen Toten, die alle am Alkohol gescheitert und gestorben sind. Ein Pfad, mit Schnapsleichen besät. Tote, die mich anrufen und mir von sich berichten.“
Am Morgen nach einer durchzechten Nacht taucht Tante Luci in seiner vollkommen versifften Berliner Trinkerwohnung auf, um ihn zu retten, ihn zurück in die Provinz zu bringen, wo alles begann – die Erinnerung und die Sucht. Wo nun die Heilung beginnen soll, wo er in der Heilanstalt andere Hoffnungslose trifft und erfährt, dass die Tante selbst eine heimliche Trinkerin ist. Und dann therapieren sie sich gegenseitig, und er beginnt zu schreiben. Peter Wawerzinek schildert mit großer Sehnsucht und immer wieder schalkhaft auf blitzendem Humor den ganzen langen Weg, bis er all die gerissenen Filme zu einem Drehbuch zusammengefügt hat, in dem die Hauptrolle seinem Lebensmenschen, der Tante Luci, vorbehalten ist. (Galiani Berlin, 19,99 Euro)