St. Vincent :: St. Vincent
Annie Clarks faszinierender Fuzz-Pop macht krank – und glücklich
Wohin geht St. Vincent? Mit dem Album „Strange Mercy“ (2011) hatte die Sängerin/Gitarristin das Versprechen der vorigen Alben mehr als erfüllt. Annie Erin Clark alias St. Vincent vermischte auf meisterliche Weise hochintelligenten Elektro-Pop mit hässlichen Fuzz-Gitarren und melodisch unmittelbarem Songwriting – und war plötzlich auch beim großen Publikum beliebt. Doch das hier ist nicht bloß Popmusik; die Spannung zwischen Entfremdung und Nähe und Mensch und Maschine macht das Werk von St. Vincent zu einem künstlerischen Statement – das hatte der gleich gesinnte David Byrne erkannt, als er Clark eine gemeinsame Arbeit vorschlug („Love This Giant“, 2012).
Das neue, selbstbetitelte Album schwingt wieder zwischen den genannten Polen. „Birth In Reverse“ ist US-amerikanischer-Pop mit Cyber-Punk-Gitarre und aufgekratztem Beat – Clark beobachtet durch die Jalousien das bürgerliche Leben, das sie in schrillen Farben dekonstruiert: „You can say that I’m sane/ In phenomenal lies“.
„Huey Newton“ verbindet ein HipHop-Beatdesign mit fast sakralen Funk-Jazz-Synthies. Die komplexen Harmonien lassen das Lied abgehoben wirken, doch Clark singt dazu eine einfache Melodie. Dann brechen ultrafiese Gitarren und Wahnsinn evozierende Chöre über uns herein, Clark spuckt Gift und Galle. „Digital Witness“ ist moderner Elektro-Pop, kühl, streng, maschinell – und absolut zwingend. Ähnlich funktioniert „Psychopath“, dessen ferngesteuerte Stakkato-Gesänge einer der Höhepunkte des Albums sind.
Die majestätischen, zugleich krank und glücklich machenden Klänge kreierte Clark wieder mit Produzent John Congleton, der schon für „Strange Mercy“ zuständig war. Man kann sich freuen, dass Clark nicht gleich weitergezogen ist, sondern das Potenzial
dieser künstlerischen Beziehung weiter ausschöpft. Am Ende steht „Severed Crossed Fingers“: Die Ballade schwankt durch eine surreale 80s-Welt wie einst bei Shakespears Sister und öffnet doch den Rahmen für eine sehr unmittelbare Kapitulation, die Clark mit scheinbar großer Erschöpfung singt: „Humiliated by age, terrified by youth/ I’ve got hope, but my hope isn’t helping you/ The truth is ugly, well, I feel ugly, too“.
Sie habe eine Party-Platte machen wollen, die man auch auf einer Beerdigung spielen könne, sagt die Künstlerin. (Caroline) Jörn Schlüter