Chad Harbach – Die Kunst des Feldspiels
Baseball, Melville, Retromanie - Chad Harbach versucht sich in seinem überaus erfolgreichen Debüt am großen amerikanischen Roman
Es wird Herbst, und die Bücher werden wieder dicker. „Schmöker“ sagte man früher zu diesen Wälzern, wenn sie nicht gerade von Tolstoi waren oder Dostojewski. Man las sie, um zu lesen. Seit David Foster Wallaces „Infinite Jest“ (dt. „Unendlicher Spaß“) steht allerdings jeder Autor, der Romane mit einem Umfang von über 500 Seiten verfasst, erst mal unter Genieverdacht. Vielleicht weil man die Ausdauer und Aufmerksamkeitsspanne des Verfassers in heutigen Zeiten für geradezu titanisch hält (die Zeichenzahl von 500 Seiten entspricht etwa 5.625 Kurzmitteilungen), weil man die Lesedauer vor seinem inneren Zeitmanagementcoach rechtfertigen muss oder über Generationen das Wissen verloren gegangen ist, dass „Dichtung“ von „verdichten“ kommt.
Der 36-jährige Chad Harbach schrieb zehn Jahre an seinem knapp über 500-seitigen Romandebüt „The Art Of Fielding“, das nun auch auf Deutsch („Die Kunst des Feldspiels“, Dumont, 22,99 Euro) vorliegt. Den langen Kampf mit dem Text hat sein Freund Keith Gessen in einem 16-seitigen Feature in „Vanity Fair“ dokumentiert. Der Umfang des Artikels lässt schon erkennen, dass Harbachs Mühen wohl nicht umsonst waren. „The Art Of Fielding“ war in den USA die literarische Sensation des vergangenen Herbstes. Der Verlag Little, Brown (of „Infinite Jest“ fame) hatte aber auch nichts Anderes erwartet und Harbach einen Vorschuss von sagenhaften 665.000 Dollar gezahlt. Natürlich wird eine solche Summe nicht allein für die Brillanz eines Texts gezahlt – der Verlag kauft ein ganzes Paket, zu dem etwa auch die Medienkontakte des Autors gehören. Und da ist Harbach als Mitbegründer des hippen Kulturmagazin „n+1“, des Leitmediums des neuen linksintellektuellen Diskurses in den USA, schon ein ziemlich guter Fang.
Auf den ersten Blick wirkt die Konstellation seines Romandebüts allerdings eher wie ein Ladenhüter: ein im Campusmilieu spielender Baseball-Roman ohne Vampire oder Hausfrauen-S/M. Aber natürlich wissen wir aus Philip Roths „The Great American Novel“, Don DeLillos „Underworld“, oder zuletzt Joseph O’Neills „Netherland“, was es bedeutet, wenn Baseball im Spiel ist: Es geht um alles. Oder sagen wir: um das, was Amerikaner unter „alles“ verstehen – nämlich die USA.
„Die Kunst des Feldspiels“ erzählt von den Ereignissen an einem kleinen College am Michigansee. Die Sportskanone Mike Schwartz entdeckt bei einem Baseballmatch in der Provinz den High-School-Senior Henry Skrimshander aus South Dakota und verpflichtet ihn für die Westish College Harpooners. Vorbild des jungen Shortstops ist ein gewisser Aparicio Rodriguez, der bereits in Sportrente ist und ein Buch titels „Die Kunst des Feldspiels“ geschrieben hat – eine Art „Vom Kriege“ für Baseballspieler. Skrimshander führt die Harpooners schließlich von Erfolg zu Erfolg, ist drauf und dran, einen von seinem Idol aufgestellten Rekord zu brechen, als er durch einen Fangfehler seinen Zimmergenossen und Mannschaftskollegen, den homosexuellen, halbschwarzen Owen Dunne, schwer verletzt. Henry wird danach vom Pech verfolgt, Owen beginnt in der Rekonvaleszenz eine Affäre mit dem virilen 60-jährigen College-Präsidenten und Melville-Kenner Guert Affenlight, der auf dem Campus mit seiner Tochter zusammenlebt. Pella, so heißt sie, ist auf der Flucht vor ihrem Ehemann und will ihren College-Abschluss nachholen. Sie wiederum startet eine Liebelei mit Schwartz, dann eine mit Skrimshander. Es geht also tatsächlich um alles.
Hier ist Amerika auf eine wohltuende Weise immer noch das gute alte Amerika mit Baseball, Colleges und Männerfreundschaften. Selbst der homosexuelle Twist scheint lange Zeit problemlos in dieser Narration mitzulaufen. Die Charaktere wachsen einem, auch wenn sie ein bisschen einfältig scheinen, ans Herz, und die Sätze fließen wunderbar leicht dahin. Harbachs sprachliche Kunstfertigkeit lässt stellenweise an Jonathan Franzen denken, der auch gleich ein Zitat für den Buchdeckel geliefert hat. Franzen ist ja so eine Art Anführer der amerikanischen Retro-Realisten, die schreiben, als wäre die moderne Welt zu trivial und schrill für ihre großen Erzählungen. Tolstoi statt Twitter.
Auch Harbach lädt seinen Text eher mit Hoch- als mit Zeitgeistigem auf – seine Protagonisten führen Whitman, Emerson und Melville in ihren Gedanken und Worten. Der junge Autor zitiert sich durch eine Unibibliothek wie Michael Kiwanuka durch den Soulkanon. Harbach lesen ist ein bisschen wie im „Starbucks“ sitzen, während im Hintergrund Billie Holiday läuft. Nicht unangenehm – aber irgendwas ist falsch daran. Was genau hier nicht stimmt, merkt man erst, wenn man „Die Kunst des Feldspiels“ ausgelesen hat. Man kehrt in Gedanken nie mehr zurück zu diesem Roman. Es ist dieses John-Irving-Gefühl: Man schaut befriedigt auf den dicken ausgelesenen Schmöker im Regal und freut sich auf den nächsten.