Close Up Michelangelo Antonioni
Abstrakt utopisch: Drei Filme in einer Box zum 100. Geburtstag des italienischen Großmeisters
Monica Vitti, Alain Delon
Regie: Michelangelo Antonioni
Rossellini gilt als der traditionsbewusste Romantiker und Reformer des italienischen Kinos, Fellini ist als bildgewaltiger Träumer in Erinnerung geblieben und Pasolinis Ruf zehrt bis heute von dem oberflächlichen Image des intellektuellen Störenfrieds. Mit Michelangelo Antonioni aber verbindet man vor allem seinen skeptischen Blick. David Hemmings im Swingin‘ London auf der Suche nach einem Toten, bis auch die letzte Gewissheit fotografischer Wahrhaftigkeit abhanden gekommen ist („Blow Up“, 1966). Oder die zerschossenen Träume der studentischen Gegenbewegung der 60er-Jahre, die sich in einer bilderbuchhaften, aber sinnlosen Explosion schließlich in Luft auflösen („Zabriskie Point“, 1970).
Antonionis Kino hat immer von Gegensätzen gelebt. Seine ersten filmischen Versuche fielen in die Blütezeit des Neorealismus, aber schon damals empfand er die Arbeit seiner Kollegen als rückwärtsgewandt. Er interessierte sich für Menschen, doch seine Figuren waren unfähig zu zwischenmenschlichen Bindungen. Und fast alle seine Filme waren vom Fortschrittsgedanken geprägt – dennoch liefen seine Protagonisten meist orientierungslos zwischen den Errungenschaften der Moderne herum. „Heutzutage“, schrieb er 1959, „ist die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt weniger bedeutsam als das Individuum selbst in unserer komplexen und beunruhigenden Wirklichkeit.“ Antonioni ist vielleicht der einzige Filmemacher, der nach dem vielfach proklamierten Ende der Postmoderne mit einiger Berechtigung noch als Modernist durchgehen kann.
Roland Barthes hat ihn einmal sogar einen Utopisten genannt. Einen abstrakten Utopisten, möchte man hinzufügen, denn Antonionis Utopien zeichneten sich nie durch konkrete gesellschaftliche Entwürfe aus. Vielmehr lieferten seine Filme dermaßen tiefenscharfe Mikrobetrachtungen zwischenmenschlicher Missstände, dass ihm das große Ganze manchmal etwas allgemein geriet. Die gesellschaftliche Misere klang in seinen Bildern dennoch stets mit: nicht als Vorwurf, nicht als Kapitulation, sondern als Versprechen. Ein Hoffnungsschimmer. Denn bei Antonioni war das Abwesende entscheidender als das Sichtbare, fast alle seine Filme thematisierten auf die eine oder andere Weise ein Verschwinden.
Abstrakt war auch Antonionis Verständnis innerfilmischer Beziehungen. Schauspieler, hat er Jack Nicholson mal erklärt, seien nichts anderes als bewegliche Räume. Alles habe der Komposition zu dienen, darin erkläre sich das eigentliche Verhältnis der Menschen zur Welt. Keine Schauspielerin hat dieses Missverhältnis so feinnervig zum Ausdruck gebracht wie seine langjährige Lebensgefährtin Monica Vitti, die mit der sogenannten „Tetralogie der Gefühle“ zwischen 1960 und 1964 zum Sinnbild für Antonionis détachement geworden ist. Zwei Filme aus dieser Reihe – „Liebe 1962“ und „Die rote Wüste“ – erscheinen nun erweitert um das Kurzfilmexperiment „Liebe in der Stadt“, zu dem auch etwa Fellini seinen Beitrag leistete, anlässlich Antonionis 100. Geburtstag in einer DVD-Box.
In „Liebe 1962“ fungiert die heißlaufende Finanzbörse als Surrogat für die erkalteten Leidenschaften der Protagonisten. Vitti und Delon bewegen sich wie Gespenster durch Roms Straßen. Die fünfminütige Schlusssequenz, ein geisterhafter Nachklang dieser emotionalen Entfremdung, hat Filmgeschichte geschrieben. „Manchmal fühle ich mich wie in einem fremden Land“, sagt Delon, Vitti entgegnet matt, dass sie so ähnlich in seiner Gegenwart empfinde.
Nie wieder wurde Farbe im Film so bewegend und konsequent eingesetzt wie in „Die rote Wüste“. Antonioni ist oft gerühmt worden für seine Schwarz-Weiß-Kinematografie, aber dieser Film sollte sein Vermächtnis an die Nachwelt sein. Ein Schwanengesang auf die Moderne, in den zukünftigen Ruinen des Fortschritts. Antonioni hat oft Orte aufgesucht, an denen die Gegensätze von Individuum und Gesellschaft zum Ausdruck kamen. Eine Berufskrankheit nennt die männliche Hauptfigur in „Identifikation einer Frau“, seinem letztem großen Film von 1982, diese Sehnsucht. (Arthaus)