Wolfgang Herrndorf :: Sand
Gut ein Jahr nach seinem charmanten Überraschungserfolg "Tschick" schickt Wolfgang Herrndorf den Leser mit seinem neuen Roman in die Sahara.
Vor gut einem Jahr lasen wir – oder doch die meisten von uns – die Geschichte des 14-jährigen Maik Klingenberg aus Berlin-Marzahn und seines Klassenkameraden Andrej Tschichatschow, die einen alten Lada kaperten, um damit in die Walachei zu fahren – auch wenn sie keine Ahnung haben, wo sich die befindet. „Tschick“ hieß diese charmante melancholisch-komische Roadnovel, die zum literarischen Überraschungserfolg des Jahres 2010 wurde. Dabei hatte der 1965 in Hamburg geborene Autor Wolfgang Herrndorf den Roman nur geschrieben, weil es ihm der einzige schien, den er vor seinem Ableben noch vollenden könnte. Herrndorf war – ist – sterbenskrank, leidet an einem Hirntumor. Auf seiner Website postet er Werkstatt- und Krankenberichte. Dort las man auch die höchst erfreuliche Nachricht, dass er bereits mit der Arbeit an einem neuen Roman begonnen hatte. Bei der offiziellen „Tschick“-Premiere in Berlin stellte er eine erste Passage vor. Eine irgendwie abgedrehte Agentenklamotte aus den Zeiten des Kalten Krieges schien das zu sein. Doch „Sand“ (Rowohlt, 19,95 Euro) ist in seinem gesamten Wahn- und Irrsinn, in seiner Konfusion und Komik, seiner Fabulierkunst und Fantasterei, seiner Sanftheit und seinem Sarkasmus nicht zu kategorisieren. „Sand“ zerrinnt einem zwischen den Fingern, „Sand“ knirscht im Alltagsgetriebe, man versinkt förmlich darin. „Sand“ ist große Unterhaltung.
Der Roman spielt im Jahr 1972, zur Zeit der Olympischen Spiele – allerdings nicht in München, sondern in Nordafrika, am Rand der Sahara. Nachdem Herrndorf einem Filmemacher gleich über die Szenerie geschwenkt und einige Nebenfiguren in einer konfusen Montage vorgestellt hat – ein paar belämmerte, sexgeile Kommissare, eine westliche Hippie-Kommune, in der ein Einheimischer zur Freude seiner Landsleute ein Blutbad anrichtet, einen verwirrten Atomspion, eine hübsche Amerikanerin, scheinbar im Dienst der Kosmetikindustrie unterwegs – beginnt er erst auf Seite 87, die eigentliche Geschichte zu erzählen. Das Kapitel trägt den Titel „Tabula Rasa“, und das sagt schon einiges über den Protagonisten: Er hat seinen Namen vergessen und seine Geschichte. Er liegt auf dem Dachboden einer alten Hütte, die einem Einsiedler als Schwarzbrennerei dient. Offensichtlich mit einer Wunde am Hinterkopf, die er auf den Schlag eines Wagenhebers zurückführt, den ihm einer der Männer verpasst hat, von denen er sich verfolgt glaubt. So ganz sicher ist er sich bei all dem nicht. Auch der Leser hat keine Ahnung, was hier gespielt wird.
Eine Treppe gibt es nicht, und der Mann findet auf die wohl unmöglichste Weise – fast wie Baron Münchhausen, der sich mit dem Schopf aus dem Sumpf zog – auf den Wüstenboden zurück. Überhaupt wählt dieser Mann mit der scheinbaren Unverwundbarkeit einer Comicfigur immer den unwahrscheinlichsten Weg, aus brenzligen Situationen zu entfliehen. Er spricht eine blonde Dame an einer Tankstelle an, findet in ihrem Sheraton-Bungalow Unterschlupf, wird trotzdem gefasst und bekommt 72 Stunden Gnadenfrist, seinen Verfolgern eine Mine (Tretmine? Goldmine? Bleistiftmine?) zurückzubringen, sonst sind seine Frau (Frau?) und sein Kind (Kind?) dran. Mit nichts in der Hand und wenig im Kopf macht der Mann sich mithilfe der blonden Frau, die Helen heißt, und einer Tarotkartenlegerin aus der Kommune namens Michelle auf die Suche nach was auch immer für einer Mine und einem möglichen Komplizen, der ihm vielleicht weiterhelfen kann. Er findet eine Espressomaschine und einen Kugelschreiber, einen irren Goldgräber und einen verlogenen Psychologen. Aber was hat das alles mit den Attentaten palästinensischer Terroristen während der Münchner Wettkämpfe zu tun? Und was mit der Atombombe? Das Ultimatum verstreicht, und die Nebel klären sich nur sehr langsam – für manch einen viel zu spät.
Herrndorf erzählt das alles mit einem Witz und einem Tempo, dass einem die Luft wegbleibt – vor Spannung und vor Lachen. Immer wieder fällt man als Leser in dieselben Gedächtnislücken und Logikfallen wie der Protagonist, lässt sich narren von falschen Erinnerungen und Lügengeschichten. Und all die Weltdeutungen von Herodot bis Luke Skywalker, die Herrndorf seinen Kapiteln voranstellt, verwirren nur noch mehr. Wenn man glaubt, das Ziel erreicht zu haben, ist es meist nur eine weitere Fata Morgana. Der Erzähler treibt ein wahnwitziges Spiel, zeigt einem nur einen Teil des großen Bildes, reicht wichtige Szenen nach und weiß manchmal selbst nicht so genau, wie es weitergeht, weil er ja viel zu klein war, als das alles passierte, und sich nicht sicher ist, ob man auf so vielen Zufälligkeiten einen Roman aufbauen kann.
Vielleicht kann man Herrndorf in diesem Erzähler erkennen, der immer ein bisschen klarer als der Leser sieht, dass es am Ende nicht gut ausgehen kann, vielleicht lässt sich an den epileptischen Zeitsprüngen und Amnesien auch seine Krankheitsgeschichte ablesen. Aber das spielt eigentlich bei der Lektüre keine Rolle. Man ist dem Autor dankbar, dass er nicht eines dieser Krebs- und Sterbebücher geschrieben hat, von denen es in den vergangenen Jahren so viele gab – auch wenn einige davon beeindruckend waren, wie etwa Christoph Schlingensiefs „So schön kann es im Himmels gar nicht sein“. Man möchte Wolfgang Herrndorf eine Lastwagenladung Sand oben in seine Lebensuhr füllen.