Martin Carthy :: Essential
Der Tutor der britischen Folk- Tradition in einer Werkschau
Von Beruf ist Martin Carthy Archäologe – sein Haupt- und Spezialgebiet englische Folklore der letzten 300 Jahre. Wann immer er seit den frühen 60er-Jahren als Sänger, Gitarrist und Arrangeur auf Songs stieß, die er gern wiederbeleben wollte, wandte er all seinen Ehrgeiz dafür auf, diese Stücke in ihren Ur-Fassungen irgendwo in Archiven handschriftlich oder in Noten dokumentiert ausfindig zu machen.
Bevor Dave Swarbrick 1969 Mitglied bei Fairport Convention wurde, unterstützte er Carthy bei Konzerten und LP-Einspielungen viele Jahre lang, die Klassiker damit doch um instrumentale und virtuos getupfte Klangfarben bereichernd. Die hier vorliegende Retrospektive zum 70. Geburtstag des Folk-Maestros beschränkt sich weithin auf die solo und mit Swarbrick musizierten Aufnahmen. Als Gäste tauchen gelegentlich aber auch die Watersons und (etwa beim Evergreen „Sir Patrick Spens“) Eliza Carthy an der Fiedel begleitend auf. Dass Big-Bill-Broonzy-Schellackplatten in Carthys musikalischer Sozialisation mal eine wichtige Rolle spielten, ist nirgends mehr zu hören. (Topic) Franz Schöler
Marvin Gaye ****¿
What’s Going On
Gayes Meisterwerk von 1968 in einer „Superdeluxe-Edition“
So eloquent artikulierte auf einem Motown-Album niemand zuvor oder danach seinen Protest. Berry Gordy betrieb strategisch Obstruktion, als Marvin Gaye mit diesem Projekt ankam, und versuchte auch seinen Adlatus Smokey Robinson davon zu überzeugen, dass kein Discjockey im Land mit derlei politisch garstigen Liedern auf Sendung gehen würde. Erst als Gaye den versammelten Chairmen of the Board erklärte, dass er in Streik treten und keine neuen Songs mehr liefern würde, wenn das Projekt nicht abgesegnet werde, gaben die Herrn nach einer Weile doch nach.
Der Rest ist Erfolgs- und Soul-Music-Geschichte. Nach dem Titelsong wurden zwei weitere ausgekoppelte Singles Top-Hits, und Marvin Gaye sicherte sich erstmals komplette Kontrolle über sein Schaffen. Als vor zehn Jahren eine Deluxe-Version des Albums erschien, verstieg sich Smokey Robinson in seinen pathetischen Liner Notes zu der Behauptung, das hier sei das größte Album aller Zeiten. Wozu man sich halt manchmal hinreißen lässt, wenn man den Nachruhm des toten Kollegen so zu mehren meint.
Solche Superlative mag Ben Edmonds in seinen Notizen für die neueste Superdeluxe-Version nicht bemühen. Er erinnert daran, dass auch „I Heard It Through The Grapevine“ vom „Quality Control“-Gremium bei Motown abgelehnt worden war. Auch daran, dass „What’s Going On“ für diese Firma die erste LP überhaupt war, der die Songtexte abgedruckt beilagen.
Marvin Gaye stoppte die Veröffentlichung der schon in Abmischung und Mastering fertigen LP – möglicherweise, weil das alles nicht unter seiner Aufsicht erfolgt war – und mischte die Bänder noch einmal im Studio in Los Angeles. Dabei war der ursprüngliche „Detroit Mix“ für Motown-Verhältnisse ziemlich unorthodox, fast schon experimentell. Den Vergleich zwischen dem gefälligeren Los-Angeles-Remix (das ganze „sweetening“ des Klangbilds hatte Gaye sicher mit Absicht vorgenommen, um seine Botschaften so besser an die Zuhörer zu bringen) und dem „Detroit Mix“ kann man jetzt wieder anstellen. Der ist diesmal nicht auf CD, sondern auf der Vinyl-LP zu hören – unbedingt zu empfehlen, wenn man diesen Mix nicht von der lange wieder gestrichenen Deluxe-Ausgabe her kennt.