Tim & Struppi :: von Sara Stridsberg
Traumfabrik +++¿
Eine poetische Meditation über Valerie Solanas, die Frau, die am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schoss und mit ihrem „SCUM Manifesto“ in die Frauenemanzipationsgechichte einging. Rigideres wurde kaum je formuliert: Es geht Solanas schlicht um die vollständige Abschaffung der Männer. Warhol amüsierte sich eine Weile über ihren Rigorismus, ließ sie mitspielen in der Factory, sogar in einem seiner Experimentalfilme („I, A Man“), aber irgendwann hat er wohl gemerkt, dass sie keinen Spaß machte, und ignorierte sie wieder. Ein Fehler!
„Traumfabrik“ zerfällt in kurze Dialog-Szenen, in den Stridsberg Solanas‘ desolate Vita abschreitet. Sie wird als Kind mehrfach vom Vater vergewaltigt, ihr Mutter ist eine Trinkerin und manisch depressiv, mit 15 läuft sie von zu Hause fort, verdingt sich als Hure, macht dann aber ihren Schulabschluss mit Auszeichnung und studiert erfolgreich Psychologie, bis sie nach New York geht und sich in der dortigen Underground-Szene aufreibt. Dazwischen geschnitten sind Flucht- und Rettungsvisionen der in einer San Franciscoer Absteige einsam Sterbenden, Exzerpte aus Solanas‘ Schriften und imaginierte Gespräche der „Erzählerin“ mit ihr, die sich vor allem um das Schreiben dieses Buches drehen. Das ist ambitioniert, überspannt, verstiegen wie seine Protagonistin. Und es hinterlässt eine hübsch suggestive, weitere Lektüre einfordernde Unzufriedenheit. (S. Fischer, 21,95 Euro) Frank Schäfer
von Tom McCarthy
Anders als in der frankophonen Welt ist der Comic-Epos „Tim & Struppi“ des Belgiers Hergé in Deutschland und England keine feste Größe im intellektuellen Diskurs. Das kann sich jetzt ändern. Der Bestseller-Autor Tim McCarthy („8 ¿ Millionen“) hat den Comic einer Psychoananalyse unterzogen, um „Tim & Struppi“ und dem „Geheimnis der Literatur“ auf die Spur zu kommen. Mit den Mitteln der postmodernen Theorie begibt sich McCarthy auf eine Tour de Force durch das Gesamtwerk Hergés, wo er Unmengen verborgener Themen und eine literarische Metaphorik findet, die ihn an keinen Geringeren als an Shakespeare erinnert. Mit jungenhafter Begeisterung gräbt sich McCarthy tiefer und tiefer in den Subtext, erwägt ebenso verspielt wie ernsthaft immer neue Interpretationen, entschlüsselt etwa aus heraldischen und biografischen Details Hinweise auf die Abkunft des Zeichners Hergé, der vielleicht ein illegitimer Enkel des belgischen Königs gewesen ist. Letzte Wahrheiten darf man nicht erwarten, ein großes Lesevergnügen allerdings schon. (Blumenbar, 18,90 Euro) Heinrich dubel
von Nagel
Thorsten Nagelschmidt, wie der Autor eigentlich heißt, war Sänger der Punkband Muff Potter. Vor drei Jahren erschien sein Debüt als Schriftsteller, „Wo die wilden Maden graben“, ein überwiegend autobiografischer Roman über den Sänger einer Punkband. „Was kostet die Welt“ ist nun dankenswerterweise keine im Musikgeschäft spielende Coming-of-age-Geschichte geworden.
Nach dem Tod des ewig kränkelnden, notorisch unzufriedenen Vaters, eines typischen deutschen Nachkriegscharakters, der sein Leben lang gespart hat, nimmt der Protagonist Meise sein Erbe und begibt sich auf eine Weltreise mit nur einem Ziel: alles zu verprassen und keinerlei Güter anzuhäufen. Es ist im Prinzip der erste Plan überhaupt im Leben dieses Mannes, denn Meise ist ein Herr Lehmann unserer Tage. Ein bindungsunfähiger Knallkopf zwischen allen Stühlen, der kellnert, viel trinkt, raucht – und natürlich in Berlin-Kreuzberg wohnt.
Auch die inneren Monologe, die Meise unablässig führt, kennen wir von Sven Regener. Die Milieu- und Figurenzeichnung gelingt Nagel jedoch nicht immer überzeugend. Nach famosen, funkensprühenden Strecken verliert der Autor bisweilen das Vertrauen in seine eigenen Werkzeuge. Dann ist es von allem ein bisschen zuviel: zu viele Klischees, zu viele Vorurteile, zu viele Binsen. Die Charaktere wirken in diesen Passagen so eindimensional und verkrampft wie Meises Vater.
Nachdem er sich nach seiner Rückkehr in Berlin nicht mehr zurechtfindet, besucht Meise mit den letzten 1000 Euro das Weingut eines flüchtigen Bekannten im Moseltal. Und hier, in denDetailstudien der linksrheinischen Provinz und ihrer Bewohner findet die Geschichte ihren Rhythmus, und Nagel gibt der Versuchung, die Provinz zum Hort wahrer Menschlichkeit und einem Quell tiefen Glücks zu verklären, nicht nach. Denn natürlich liegt das Glück beinahe nie in der Umgebung, sondern immer in einem selbst. (heyne, 16,99 Euro) Torsten Gross
War – Ein Jahr im Krieg ++++¿
von Sebastian Junger
Wie Jon Krakauer ist Sebastian Junger ein ganzer Kerl, der dorthin geht, wo es wehtut. Zwischen Reportage, wissenschaftlicher Studie und literarischer Erzählung sind seine Arbeiten angesiedelt; mit „The Perfect Storm“ gelang ihm das Kunststück, ein Ereignis zu schildern und auszudeuten, das er nicht beobachten konnte und das kein Mensch an Bord des Schiffes überlebte. Fassungslos sah man in Wolfgang Petersens Film, wie das Boot von der unendlichen Welle verschluckt wurde. Und Junger beschrieb unvergesslich den Vorgang des Ertrinkens.
Mehrfach reiste der Autor nach Afghanistan, wo er bei den amerikanischen Truppen weniger eingebettet als geduldet wurde. Je näher er aber an die Front kam (und er war ganz vorn), desto willkommener war er. Weil die Kämpfer sogar auf dem Plumpsklo damit rechnen müssen, erschossen oder von einem Schrapnell zerfetzt zu werden, ist es ihnen recht, wenn man über sie schreibt – so bleibt vielleicht etwas von ihrer Existenz für die Nachwelt. Während der Diskussion über die Unmöglichkeit von Masturbation im Feuergefecht bemerkt ein Soldat die Anwesenheit Jungers: „Sorry, Sir. Wir sind schlimmer als Tiere.“ Der lakonische, aber umso profundere Bericht handelt von einem verlorenen Außenposten der Existenz, von einem Krieg, der sich selbst ernährt, der Land und Menschen verwüstet -und nach dessen Begründung niemand mehr fragt. (Blessing, 19.95 Euro) Arne Willander