Einsame Glückssuche
Mit dem Tod von David Foster Wallace im vergangenen Jahr verstummte eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur. In „Infinite Jest“ hatte sie ihren faszinierendsten Ausdruck gefunden. „Wenn Sie nach einem Monat Lektüre aus diesen Seiten heraustreten, sind Sie ein besserer Mensch“, so Dave Eggers, Autor und Gründer des unabhängigen Verlags McSweeney’s, in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe. Der Verstand werde bei der Lektüre durch hartes Training gestärkt, schreibt er weiter, das Herz werde anschließend praller sein.
Nun wird David Foster Wallaces Opus magnum von 1996 unter dem Titel „Unendlicher Spaß“ (Kiepenheuer & Witsch, 39,95 ) wohl auch deutschsprachige Leser in seinen Bann ziehen.
Wallace, den eine Kurzgeschichte von Donald Barthelme mit dem Drang zu schreiben infizierte, betrachtete die Fiktion als eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten zur Empathie. Sie erlaube es, darüber Auskunft zu geben, was es bedeute, als Individuum in einer westlichen Gesellschaft am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu leben.
Doch der Weg dahin, ein besserer Mensch zu werden, ist steinig und steil. Er führt durch das weiterhin nur unzureichend kartografierte Gelände des menschlichen Daseins, das einem auf den über 1500 Seiten des Romans, davon über 100 Seiten Fußnoten, in all seinem Detailreichtum präsentiert wird. Und ganz nebenbei ist zu erfahren, was Literatur heute sein kann, und was es heißt, im goldenen Käfig der Ironie, die in postmodernen Zeiten zu einer leeren, selbstgefälligen und zynischen Geste geworden ist, gefangen zu sein.
Wallaces Werk, angesiedelt in einem leicht futuristischen Amerika, in dem die Jahre nicht mehr kalendarisch gezählt, sondern für kommerzielle Zwecke zur Verfügung gestellt werden, erzählt unter anderem von einem süchtig machenden, letztlich tödlichen Film, dem mehrere Organisationen hinterherjagen; vom bizarren Selbstmord des Regisseurs James O. Incandenza; von seinem jüngsten Sohn Hai, grüblerisches Tennis-Talent, Wörterbuchfex und in vielerlei Hinsicht ein Alter Ego des Autors; von kanadischen Freischärlern in Rollstühlen; von Doppel- bis Vierfachagenten; von Joelle van Dyne, einer suizidalen Radiomoderatorin mit dem Alias Madame Psychosis; von Don Gately, der im nahe Boston gelegenen Ennet-House, einem Entziehungsheim für Drogensüchtige, nach einer kriminellen Karriere seine zweite Chance sucht, und und und – es wäre absurd, Handlung und Personal dieses vor Ideen berstenden Romans zusammenfassen zu wollen. Gespickt mit satirischen Science-Fiction-Elementen, mit abgelegensten Anspielungen, radebrechendem Jargon, pharmazeutischen Fachbegriffen und Neologismen, Film-Theorie, Albernheiten und philosophischen Exkursen, reflektiert „Unendlicher Spaß“ vor allem den in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung festgeschriebenen „Pursuit of Happiness“.
Doch die Suche nach dem Glück – durch Sport, Konsum, Entertainment und Drogen – führt bei den abwechselnd und nicht immer chronologisch fokussierten Protagonisten rasch zu Abhängigkeiten, Einsamkeit und Depression. Nicht umsonst lautete der doppeldeutige Arbeitstitel des Buches zunächst „A Failed Entertainment“.
Angesichts der schier endlosen Satzkaskaden von Wallaces Prosa, die keine noch so finstere Abzweigung auslässt, fühlt man sich leicht in ein scheinbar ausweg- und freudloses Labyrinth versetzt.
Der Übersetzer des Mammutwerks, Ulrich Blumenbach, notierte vor einigen Jahren in seinem Arbeitstagebuch, kolportiert von der „Süddeutschen Zeitung“: „weil ich mich so lang bei jedem von ihnen aufhalte, bewege ich mich durch Wallaces Sätze wie durch Räume, betrachte die verschiedenen Wände, stoße hinter der nächsten Ecke auf unerwartetes, nur haben diese Räume etwas von der radikalen Fremdheit eines David Lynch.“
Und gerade darauf, sich auf das Unerwartete und womöglich Erschreckende einzulassen, einen Blick hinter den roten Vorhang zu werfen, um durch das weiße Rauschen unserer mediatisierten Welt hindurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, kam es Wallace an. Dass er dabei, hinsichtlich einer albtraumhaften, häufig non-linearen Inszenierung ohne Zweifel auch von David Lynch beeinflusst wurde, belegt sein aufschlussreicher, auch online zugänglicher Essay „David Lynch Keeps His Head“ über einen Besuch bei den Dreharbeiten zu „Lost Highway“.
Reicht es also vielleicht doch, einfach öfter ins Kino zu gehen? „Gefährlich wird es, sobald die Flucht (in Entspannung, Unterhaltung usw.) zum allesbestimmenden Lebenszweck wird… Meiner Ansicht nach geht es bei ernsthafter Kunst darum, dass wir uns mit dem auseinandersetzen, was in uns und in der Welt problematisch ist“, sagte Wallace in einem Interview mit David Wiley. Viele seiner Charaktere gehen im Laufe der Handlung der zwischenmenschlichen Beziehungen verlustig. Sie ringen um Anerkennung, um irgendeine Verbindung zur Welt und um – so pathetisch es klingt – einen Sinn in ihrem Leben.
Hört sich anstrengend an? Ist es auch. Aber David Foster Wallace, der sich für etliche Szenen seines Romans von offenen Treffen der Anonymen Alkoholiker inspirieren ließ, hielt stets fest an der Devise, dass der Kunstgenuss ohne eine gewisse intellektuelle und emotionale Anstrengung zu nichts führen kann. Sich zu Tode zu amüsieren, durfte demnach nie das Anliegen seiner Leser sein. Und trotzdem ist „Unendlicher Spaß“ nicht nur traurig, tiefgründig und anrührend, nicht nur selbstreflexiv, sardonisch und übersättigt von hoch- und popkulturellen Verweisen, es ist paradoxerweise auch unterhaltsam und zutiefst komisch. Es ist ein Roman, der Maßstäbe setzt für künftige Schriftstellergenerationen.