Hank Williams :: The Unreleased Recordings
Ein 3-CD-Box-Set mit Aufnahmen für eine Radiosendung
Als Mercury vor zehn Jahren das 10-CD Box Set „The Complete Hank Williams“ veröffentlichte, hätte es Colin Escott eigentlich besser wissen müssen. Denn wie in den Liner Notes zu „The Unreleased Recordings“
en passant gestanden und nachzulesen, war die Existenz dieser „Mothers Best“-Aufnahmen (der Name bezeichnete die populäre Marke eines großen Lebensmittelherstellers im Süden) zwar ein im Nachlass der Erben wohlgehütetes Geheimnis. Aber dass sie rechtzeitig für die Nachwelt gerettet wurden, machte dieses neue Box-Set überhaupt erst möglich.
Obwohl Ampex schon seit 1948 Magnetband für professionelle Tonaufzeichnung anbot, blieben viele Sender bei der bewährten Praxis, Live-Auftritte im eigenen Studio auf 40-Zentimeter-Lackfolien (genauer: 16 Zoll) mitzuschneiden, um sie zeitversetzt senden zu können. So hielt man es auch bei WSM in Nashville, wo morgens fünfmal in der Woche eine Viertelstunde lang die Show des aktuell beliebtesten aller Country-Sänger gesendet wurde. Der erhielt dafür, wie hier in den Liner Notes verbürgt, 100 Dollar, in aktuelle Kaufkraft umgerechnet etwa 850 Dollar.
Aber wenn man Hank Williams heißt, mit „Cold, Cold Heart“ den erfolgreichsten Country-Song (auch einen der größten Pop-Hits) des Jahres 1951 überhaupt geschrieben hat und davon profitieren möchte, war selbstverständlich, dass man so viele Konzerte wie möglich geben musste. Denn damit war natürlich das meiste Geld zu machen. Besagte Azetate wurden also für die von einem Sponsor finanzierten Sendungen vorproduziert. Der andere Grund, sich so über die Maßen auszubeuten, war natürlich der, dass jemand wie Hank Williams immer in der nicht vollkommen unbegründeten Angst lebte, die aktuelle Popularität könnte bald wieder schwinden.
Was an diesen gut vier Dutzend Mitschnitten ein ums andere Mal verblüfft, ist die allem Leistungs- und Zeitdruck zum Trotz lockere, bei aller gelassenen Professionalität auch familiäre Atmosphäre, in der das alles aufgezeichnet wurde. Mit heute üblichem Format-Radio hatte diese Sendung nichts zu tun. Hank & Band spielten nicht nur nicht die neuesten eigenen Studio-Singles rauf und runter, sondern querbeet von Seemannsliedern und uraltem Appalachen-Folk bis zu Gospelsongs, Western-Evergreens (Bob Nolans „Cool Water“) und mancherlei tränenfeuchtes und als Trost gemeintes Liedgut aus dem 19. Jahrhundert. Anders als bei den Everly Brothers nahm Musikverleger Fred Rose in diesen Fällen anscheinend überhaupt nicht Einfluss auf die Songauswahl für die Sendungen.
Viele davon nahm Hank Williams nie im MGM-Studio auf der anderen Straßenseite für Platte auf. Wie er da Songs ankündigt, erinnert manchmal an die Radio-Show von Vater Ike Everly, dann wieder an die Stimme von Walter Brennan. wenn er seine Geschichten erzählte. Das berühmte „Pictures From Life’s Other Side“ (aus dem Jahr 1896) trägt er als morality play vor, bei „Blue Eyes Crying In The Rain“ durften Pedal Steel und Fiedel besonders ausführlich schluchzen. Eine der vielen Delikatessen dieser Sammlung ist „Lonely Tombs“, also ursprünglich das im frühen 19. Jahrhundert von einem Prediger komponierte „The Lone Pilgrim“.
Verblüffend gut ist das, was Remastering-Veteran Joe Palmaccio hier noch an Klangqualität realisieren konnte. Im Gegensatz zu Schellackplatten waren diese Azetate des relativ weichen Lacks wegen oft nur wenige Male ohne größeren Qualitätsverlust abspielbar. Die manchmal von Schellack-Verächtern als gruselig empfundenen heftigen Oberflächengeräusche wiesen diese 40-Zentimeter-LPs folglich nicht auf. Also musste Ingenieur Palmaccio da auch glücklicherweise nichts digital zu klanglichem Tod weichspülen.