Diverse
Die Burg-Waldeck-Festivals 1964-69
10-CD-Box mit Aufnahmen von dem legendären Festival
Jemand sollte es den Deutschen mal sagen: Die eigene Kultur zu ignorieren ist nicht so cool, wie man hierzulande glaubt. Über die Beatles auf der Reeperbahn wissen wir jedenfalls wesentlich mehr als über die Anfänge einer eigenständigen deutschen Musikkultur. Wikipedia informiert normalerweise über jeden Quatsch — einen Eintrag zu den Burg-Waldeck-Festivals gibt es bis heute nicht.
Dabei entwickelte sich auf der Burgruine im Hunsrück ab 1964, also lange vor den legendären Essener Songtagen, eine intellektuelle Singer/Songwriter-Szene, deren zarte Gesellschaftskritik im Lauf der Jahre immer lauter und deutlicher wurde: Hans Dieter Husch, Hannes Wader, Walter Moßmann, Dieter Süverkrüp und Franz Josef Degenhardt ging es weniger um eine musikalische und ästhetische Rebellion – dafür waren die Kollegen in den Beat-Kellern zuständig-, sondern um eine kritische inhaltliche Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und Gegenwart im Rahmen eines international besetzten Open-Air-Festivals. Auf zehn CDs und in einem 240 Seiten umfassenden Buch gibt dieses opulente Waldeck-Paket darüber nun einen großartigen Überblick: von der Wiederentdeckung alter, von den Nazis verbotener oder instrumentalisierter Volkslieder über den Austausch mit internationalen Folkmusikern bis zu einer 1968 beschlossenen Resolution, dass das Festival seine primäre Funktion darin sieht, „Teil internationalen Widerstands zu sein“.
Mehr als zehn Stunden mit zum größten Teil unveröffentlichter Musik von mehr als 80 nationalen und internationalen Künstlern zeigen dazu ein enormes stilistisches Spektrum. Wir hören nicht nur Schobert & Black und den jungen Reinhard Mey, sondern auch Phil Ochs, der 1968, im Jahr seines Waldeck-Auftritts, mit Jerry Rubin in Chicago die Yippie-Bewegung gründete. Dazu gab es die Blödeleien von Insterburg & Co, die psychedelischen Improvisationen von Xhol Caravan, den Polit-Rock von Floh de Cologne und den Sinti-Swing des Schnuckenack Reinhardt Quintetts. Dass sogar Ivan Rebroff 1967 mit dem Balalaika Ensemble Troika im Hunsrück aufgetreten ist, kann man hier ebenfalls hören.
„Wir haben uns gefragt, warum wir in unseren Breiten keinen Georges Brassens oder Yves Montand, keinen Pete Seeger und keine Joan Baez haben. Wir möchten gerne herausfinden, welche Möglichkeiten das Chanson bei uns hat oder haben könnte“, erklärte der Initiator und Mitorganisator Diethart Krebs 1964 zu Beginn des ersten Festivals die Intention der Veranstalter. Rund 400 Menschen – schon im nächsten Jahr waren es 2000 – teilten damals diese Neugier und ließen sich anlocken von dem tollen „Finger-Spatzen“-Plakat Walter Brekers. In dem von der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V. mitherausgegebenen Buch zur Compilation wird peinlicherweise mehrfach der Nazi-Künstler Arno Breker als Urheber genannt.
Überhaupt hätte dem Material eine bessere redaktionelle Bearbeitung gut getan. Die Fülle ist zweifelsfrei beeindruckend, als Faksimile gedruckte Artikel aus „FAZ“, „Twen“ und anderen Medien vermitteln viel vom kulturellen und politischen Klima dieser Tage. Doch viele Künstlerbiografen und Festivalschilderungen leiden an Redundanzen und dem zu großen Insiderwissen der Autoren. Jüngeren und weniger informierten Interessenten wird so der Zugang erschwert. Es weiß nicht jeder, dass die Burg dem „Nerother Wandervogel Bund“ gehört und ein Teil der Initiatoren in der bündischen Jugend aktiv war.
Ausgesprochen erhellend, weil sich selbst erklärend, SLnd dagegen die zehn CDs. Eine davon bietet als Bonusmaterial sogar eine hitzige Debatte von 1968 und O-Töne der beteiligten Liedermacher. Es ist überhaupt ein weiter Bogen, der hier geschlagen wird: Die jiddischen Lieder, die Peter Rohland 1964 sang, zeigten sehr selbstverständlich, dass man sich hier bemühte, eine Tradition fortzuführen, die von den Nazis brutal zerschlagen worden war. Ein Jahr später intonierte Franz Josef Degenhardt – einer der ewigen Titanen unter den deutschen Songwritern – sein wunderbar poetisches „Wölfe mitten im Mai“. Später sollte „Väterchen Franz“ im Klassenkampfweit schärfere Töne anschlagen.
Natürlich gehört auch Hans Dieter Husch zu den Höhepunkten dieser Sammlung; sein Kabarett-Stück „Ich bin ein deutscher Lästerer“ porträtiert den Zustand der deutschen Seele anno 1967 so treffend, dass einem Angst und Bange wird. Walter Moßmann deklamierte dann ein Jahr später sein „Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“, als wär’s ein Stück von Brecht und Weil: „Wenn wir uns jetzt nicht wehren, wirst du der nächste sein. Ach Deutschland, deine Mörder.“ Ironie steckte damals ganz offensichtlich noch in den Kinderschuhen, auch das Arbeiterkampflied-Pathos von Die Conrads ist nur als Zeitdokument zu ertragen.
Musikalisch ist die frühe, Folk begeisterte Waldeck-Zeit sicher ergiebiger gewesen als die von verkrampften Debatten dominierten Jahre 1968/69. Man ahnt die Fehler, die bald ins Abseits der K-Gruppen und der Gewerkschaftsverbands-Kultur führten. Die antiautoritäre Linke favorisierte dann ja auch eher den Rock’n’Roll von Ton Steine Scherben. Kommerziell erfolgreich waren nur die heiter-spöttischen Liedermacher: Allen voran Reinhard Mey, der noch heute klampft und singt von Karl Dali wollen wir hier lieber schweigen. Degenhardt und Husch waren leider lange aus der Mode. Bis ein Hamburger Liedermacher namens Jochen Distelmeyer nicht müde wurde, sie als wichtigen Einfluss zu preisen.
Ach, es gibt so viel zu entdecken — man muss es nur wollen.