John Cale – Circus Live
Von allen berserkerischen, zarten, pathetischen und übermütigen Live-Alben in der wahrhaft dramatischen Karriere des John Cale ist dieses das umfassendste, das ausgreifendste und abenteuerlichste. Einerseits bindet der Künstler, nie ein großer Nostalgiker, Lou Reeds Velvet-Standards „Venus In Furs“ und „Femme Fatale“ ein und Stücke von „Helen Of Troy“, „Fear“ und „Sabotage“, sogar „Set Me Free“ von „Walking On Locusts“. Andererseits werden die experimentellen, die sonischen Stücke von „HoboSapiens“ und „Black Acetate“ gespielt, oft länglich, dröhnend, nervend – so soll es ja sein! Zuletzt schwärmte Cale ja von Prince und Erykah Badu, entdeckte Funk und Falsett und die Segnungen der Elektronik. So wimmern und wummern hier „Hush“ und „Outta The Bag“, und „Drone“ aus Cales Anfängen bei La Monte Young unterbricht einmal die Songs (und beendet später das Konzert).
Man kann also sagen, dass der große Ernste seinem Spieltrieb nachgibt und sich ohne destruktive Absicht dem Früh- wie dem Spätwerk widmet. Manche entscheidenden Alben- „Paris 1919“, „Music For A New Society“, „Artificial lntelligence“ und „Carribbean Sunset“- kommen diesmal kaum zum Zug. Und doch sind es die alten, wehmütigen Balladen und Wunderlieder, die ans Herz greifen: „Set Me Free“ natürlich und „The Ballad Of Gable Hogue“, „Mercenaries (Ready For War)“, „Hanky Panky Nohow“ und das luftig-elegisch variierte „Style It Takes“ von „Songs For Drella“. Grandios gelingt das fiebrige „Look Horizon“ von „HoboSapiens“. Und es fehlen auch nicht die Lärmstücke „Dirty Ass Rock And Roll“, „Pablo Picasso“ und Rufus Thomas‘ etwas willkürlich verfremdetes „Walking The Dog“.
Am Ende ist es wieder eine Deutung von „Heartbreak Hotel“, die einem den Atem nimmt. Zur ersterbenden Mundharmonika wispert Cale todmüde die fahlen Verse, überdehnt und zerhackt den Song. Die Herzschmerz-Herberge: ein Totenhaus. Und John Cale, der Bewunderer Picassos und Magrittes, ein Dekonstruktivist und Rock-Zertrümmerer. „Circus Live“ ist eine unsagbar anrührende – aber auch eine unwahrscheinlich fordernde Platte. Der Gesamt-Cale mit allen erstaunlichen Talenten auf einem doppelten Album.