Harry Smith Project
Wer einmal die Performances auf der in den Fünfzigern vom New Yorker Exzentriker Harry Smith kompilierten „Anthology Of American Folk Music“ gehört hat, sieht Folk danach mit anderen Augen. Weggewischt sind die Klischees harmloser Combos wie des Kingston Trios und bieder naiver Gutmenschen, wie sie das Folk Revival zu Beginn der Sechziger in vielfacher Ausführung hervorbrachte. Denn Harry Smith war kein politisch motivierter Geschichtslehrer wie Pete Seeger, er wollte von einem anderen, mythischen Amerika, jenseits von Institutionen und Bewusstseinsindustrie erzählen und suchte dafür nach möglichst idiosynkratischen Interpretationen alter Folksongs. Man erkennt gleich die Traditionslinien, die von auf der „Anthology“ vertretenen Sängern wie Dock Boggs, Henry Thomas oder Clarence Ashley zu Künstlern wie Bob Dylan, Captain Beefheart, Pere Ubu, Victoria Williams oder Will Oldham führen.
Viel ist seit der Wiederveröffentlichung auf CD 1997 über die „Anthology“ geschrieben und theoretisiert worden, nun kommen zum zweiten Mal nach der „The Harry Smith Connection“ von 1998 die Künstler, die von diesen geheimnisvollen Songs aus der Schatztruhe der Vergangenheit beeinflusst und inspiriert wurden, selbst zu Wort. Produzent und Smith-Intimus Hai Willner organisierte unter dem Titel „The Harry Smith Project“ drei Konzerte — das erste beim Londoner Meltdown Festival 1999, weitere im selben Jahr in Brooklyn und 2001 in Los Angeles —, bei denen so unterschiedliche Musiker wie Lou Reed, Philip Glass, Richard Thompson (auf dem Cover fälschlicherweise als „Richard Thomas“ geführt), Todd Rundgren, Wilco, Van Dyke Parks mit dem Mondrian String Quartet, Beth Orton, Marianne Faithful und Steve Earle ihre Interpretationen der alten Songs vortrugen. Einige dieser Performances erscheinen nun im aus zwei CDs und zwei DVDs (Import, daher Regionalcode 1) bestehenden Box-Set „Anthology Of American Folk Music Revisited“.
Es sind vor allem die schräg zur historischen Vorlage stehenden Darbietungen, die auf dieser Sammlung überzeugen und sicher auch Smiths Vision einer lebendigen widerständigen Folk-Kultur am nächsten kommen. Beck macht mit Fiddle, Klarinette und emphatischem Vortrag aus Robert Johnsons „Last Fair Deal Gone Down“ ein Stück social music für den Tanzsaal. Sonic Youth und Posaunist Roswell Rudd dekonstruieren das Traditional „Dry Bones“. „A Lazy Farmer Boy“ klingt in Robin Holcombs Vortrag wie ein Kate-Bush-Stück. Eric Mingus und Gary Lucas verbinden in „Death Where Is Thy Sting“ Gospel und Industrial. Elvis Costello schreibt für die unheilvolle Ballade „Ommie Wise“ einen zweiten Teil und taucht für „The Butcher Boy“ tief in den British Folk ein. Neben Costello sind u.a. auch David Johansen, Nick Cave – in „Murder Ballads“-Bestform -, der sich als irrer Hillbilly gebende Dave Thomas und die McGarrigle-Schwestern, die aus dem unheimlichen Dock-Boggs-Stück „Sugar Baby“ eine Folk-Preziose machen, gleich zweimal auf dieser Sammlung vertreten.
Gerne hätte man auch noch die Darbietungen von Rufus und Martha Wainwright, Jarvis Cocker, Bryan Ferry und T Bone Burnett gehört, stattdessen gibt es die größtenteils schon im Audio-Teil dokumentierten Auftritte noch einmal auf DVD anzuschauen. Völlig unnötig, zumal die informative Dokumentation auf der zweiten
DVD, in der neben Initiator Hai Willner auch beteiligte Musiker, Freund Allen Ginsbergund Harry Smith selbst zu Wort kommen, schon genügend visuelle Eindrücke von den Konzerten liefert. Zum Bonusmaterial gehören zwei von Smiths Animationsfilmchen, die heute — so wie die Erscheinung des bohemehaften Schrats selbst – eher putzig wirken. Sein größtes künstlerisches Vermächtnis, seine Gesellschaft und Musik für immer verändernde Arbeit ist die „Antholgy Of American Folk Music“.