Das Kunstseidene Mädchen
„Das Kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun stand schon im Frühjahr 1933, also bald nach seinem Erscheinen, auf der schwarzen Liste der Nazis. Das lag nicht allein an der Laszivität und freizügigen Moral, sondern auch an diesem eruptiven, sich vom Expressionismus einiges borgenden Stakkato-Stil – mit vielen, vielen Gedankenstrichen! -, der die Distanzlosigkeit und Plötzlichkeit des Erlebens der Protagonistin Doris verbürgen soll. Es bleibt keine Zeit für richtige Syntax, alles will schnell und unmittelbar mitstenographiert sein, und so sind diese Sätze notwendig kaputt, einfach überfordert von den Ansprüchen und Anfällen der Realität.
Die Leistungsfähigkeit dieser Textur zeigt sich vor allem, wenn Doris durchs zeitgenössische Berlin streift. Sie fängt die Stimmungen der Stadt ein, das politische Tagesgeschehen, die hohe Arbeitslosigkeit, Massenaufläufe, Unruhen, marodierende SA-Horden, den offenen Antisemitismus. Doris will „schreiben wie Film“, hat sie auf den ersten Seiten angekündigt, und nichts anderes ist das hier. Ein mit der Handkamera eingefangener, verwackelter, gehetzter, mit schnellen Schnitten und Überblendungen experimentierender Dokumentarstreifen. Keun besitzt eine Modernität des Ausdrucks, die immer noch gilt. Und wieder einmal zeigt sich hier, was für ein ästhetischer Ein- und Rückschritt die Nazi-Jahre eben auch waren. Wie lange hat es gedauert, bis nach 1945 wieder eine solche flinke, gewitzte, hochartifizielle und dabei auch noch unterhaltsame Prosa geschrieben wurde – noch dazu von einer Frau. (22 Euro)