Ray Charles
The Complete Atlantic Recordings 1952-59
Rhino / Warner
Die frühen Jahre des genialischen, nicht immer meisterlichen Pianisten
Unter den Meistern, von denen noch keiner vom Himmel gefallen ist, war er einer der ganz großen. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als Atlantic eine richtig teure Produktion finanzierte, die ihn – unbescheidener Titel der LP von 1959: „The Genius OfRay Charles“ – als Crooner in derselben Liga wie Frank Sinatra etablieren sollte. Für Randy Newman wurde die damals zum Damaskus-Erlebnis. Nicht daß er seinem Idol Fats Domino oder dem ganzen New-Orleans-Rhythm & Blues abgeschworen hätte. Aber dieses Album, dessen Chor-Arrangements förmlich um die Aufmerksamkeit eines weißen Publikums bettelten, überzeugte ihn, daß Ray Charles als Pianist wie Sänger wirklich ein Genie war. Newman über Charles‘ Interpretation von „Come Rain Or Come Shine“: „It moves like Beethoven moved.“ Starker Tobak!
Mittlerweile, nach Charles‘ Tod und dem geschönten „Ray-Film, betitelt die Plattenfirma jede Anthologie, jedes Duett-Album mit „Genius…“, als wäre ausgerechnet dieser wilde Mann der Prototyp des Künstler-Genius gewesen. So stellt sich vielleicht Klein-Erna den hedonistischen Großkünstler vor. natürlich mußte auch Charles sich entwickeln!
Die letzte LP für Atlantic war auch eine für seine Verhältnisse völlig untypische: Jede Menge Big-Band-Arrangements und üppige Streicher, die gelegentlich nur knapp am Schwulst vorbeischrammten. Viele Songs zu dem Zeitpunkt schon und später erst recht Standards, Evergreens wie, Am I Blue“ und „Let The Good Times Roll“, „Don’t Let The Sun Catch You Crying“, „Alexander’s Ragtime Band“, „It Had To Be You“ und andere, von denen Bette Midler, Harry Nilsson und viele andere weiße Bewunderer später bemerkenswerte eigene Deutungen aufnehmen sollten. Zu den ganz frühen gehörten verblüffenderweise die Everly Brothers, die etliche der Songs gänzlich aus ihrem kulturellen Zusammenhang lösten und in wunderbarsten weißen Teenie-Pop verwandelten. „Leave My Woman Alone“ oder „This Little Girl Of Mine“ reklamierten sie für ihre eigene Generation.
Viel ehrfürchtiger gingen später der kleine Stevie Winwood oder der junge Dave Edmunds in Love Sculpture-Jahren mit Charles-Vorlagen um, nicht ganz so devot wiederum John Fogerty bei seinem Arrangement von „(Night Time Is) The Right Time“ für Creedence Clearwater Revival. Einem Joe Cocker konnte in seinen Anfängen kaum eine größere Ehre widerfahren, denn als „weißer Ray Charles“ bezeichnet zu werden.
Daß die Ertegun-Brüder richtig Zeit und Geld in die Produktion von „The Genius Of Ray Charles“ investierten, zahlte sich aus. Es war die erste Platte überhaupt, mit der er i960 in die Pop-Hitparade und dort gleich auf Platz 17 kam. Im Hause Atlantic, das 1952 den Swingtime-Vertrag des jungen Mannes aufkaufte, hatte man selbst da anscheinend noch gar nicht in vollem Umfang begriffen, daß der mittlerweile ein veritabler Superstar mit „Crossover-Potential“ geworden war. Darauf hatte Ahmet Ertegun zwar spekuliert. Aber wie auf der siebten CD dieses Box-Set anhand der hier erstmals öffentlich gemachten Aufnahmen zu hören, hatte er dem zunächst jahrelang Vorbilder wie Nat „King“ Cole oder Charles Brown imitierenden Sänger eine ganze Menge beibringen müssen. Bei der hier dokumentierten „Rehearsal Session“ von 1953 erlebt man – etwa bei der Früh-Fassung von „Mess Around“ keineswegs einen souverän das Songmaterial meisternden Musiker. Wie in Taylor Hackfords Bio-Pic „Ray“ zu sehen, bedeuteten Gesellenjahre für ihn auch viel harte Arbeit.
Wie das sich anließ, erzählt Ertegun auf der Bonus-DVD im Interview mit Hackford. ABC/Bluesway bot dann einfach zuviel Geld, als daß man mithalten konnte (oder wollte). „What’d I Say“ hatte Ray Charles zwar weltweit zu einer Berühmtheit gemacht. Trotzdem waren die Ertegun-Brüder keine Hellseher, die da schon sicher sein konnten, daß seine Karriere noch weit mehr abheben würde.
Über die Jahrzehnte hat die Firma die Studio- und Live-Aufnahmen endlos in immer wieder neuen Kompilationen veröffentlicht. Jetzt liegen sie in diesem wunderschön aufgemachten „Koffer“ erstmals komplett und ohne Überschneidungen vor. So ganz konnte man nicht kaschieren, daß bei Atlantic nicht Technik-Cracks von gleichem Rang wie bei RCA oder Columbia in Lohn und Brot standen. Aber auch im Fall von „The Genius…“ wie anderen der Stereo-Ära wurden die schlimmsten Mängel ausgebügelt: Besser überspielt als hier wird man das Vermächtnis seiner Atlantic-Ära nicht mehr hören.