Nine Inch Nails – The Fragile
Das Bookiet stinkt Wenn man dieses Doppelalbum öffnet, endlich öffnen darf, strömt einem sofort der unangenehme Geruch entgegen – giftiger Klebstoff vielleicht, toxische Farbstoffe -, schädlich riecht es jedenfalls, und wenn man es aufblättert, überkommt einen spontan Übelkeit. Irgendwie passt dieser erste Eindruck zu Nine Inch Nails. Nicht dass sie zum Kotzen sind, aber krank auf jeden Fall. Dabei ist „The Fragile“ nicht so böse, wie zu erwarten war. Auf das übliche „Härter, schneller, krasser“-Schema fallt Trent Reznor nicht rein; er versucht es dieses Mal mit anderen Mitteln. Es gibt schon genug Korns, Mansons und Ministrys auf dieser Welt. Von der gemeinen, grausamen Welt hat Trent Reznor genug gesehen – und sie auf zwei Alben detailliert beschrieben. Bisher hat die Welt allerdings nur einen Bruchteil von Trent Reznor gesehen, seine sensible Seite eher selten. „Pretty Hate Machine“ war 1989 ein Aufschrei, ein infernalisches Gemetzel inmitten einer Menge durchschnittlicher Metal-Bands. Es war ein Jahr, bevor Poison noch einmal Nummer eins in den Billboard-Charts wurden und zwei, bevor Guns N‘ Roses sich von der wirklichen Welt verabschiedeten. Viel mehr war damals nicht, und danach war auch lange nichts mehr los, zumindest nicht im Hause Reznor. Erst 1994 kam der nächste Schock, „The Donnward Spiral“. Und egal, was Marilyn Manson heute sagt und selbst glauben möchte – ohne die Nine Inch Nails gäbe es ihn nicht, weder seinen Sound noch die „Antichrist Superstar-Rolle. Reznor machte es möglich. TonträgerEr verband brutalsten, klinisch kalten Industrial-Lärm mit beinahe poppigen Melodien und Versen, die selbst hartgesottene Hardrocker schlucken ließen. Als er in „Goser“ immer wieder ,J want to nick you like an animal“ schrie, gab es nur zwei Möglichkeiten: Ohren zu und weg – oder den Schmerz ertragen und auf die Erlösung warten. Es gab doch immer Rettung, bei allem Krach immer auch ein bisschen Schönklang. Auf „The Fragile“ geht Reznor allerdings noch weiter als bisher. Natürlich verzichtet er nicht auf den treibenden Beat, der NIN ausmacht, auf die Hasstiraden und das Geschrei, aber die Erholungspassagen werden immer länger. Manchmal klimpert er auf dem künstlichen Klavier, als wolle er Art-Rock wieder aufleben lassen, als hätten wir nicht genug Yes und Genesis gehört. Manchmal nerven auch diese Instrumental-Zwischenstücke, wenn sie hochtrabend „Pilgrimage“ heißen und bloß ein unsinniger Computer-Krach sind. Ein solcher prätentiöser Fauxpas passiert Reznor aber nur selten. Meist kanalisiert er seine Ideen, nutzt zwar alle technischen Möglichkeiten aus, verzettelt sich jedoch nicht Aus einem Haufen von Fragmenten konstruiert er zwei kohärente Alben, die JLeft“ und „Right“ heißen, aber beide in der Mitte stehen, zwischen extremen Gefühlschaos und penibler Ordnung in Sachen Sound. Von einem Controlfreak erwartet man freilich nichts anderes. Trent Reznor kann ja nicht singen, aber das ist unwichtig. Ob er seine Worte schreit, grölt oder versuchsweise ruhig vorbringt – sie tun immer weh. Im Grunde ist „The Fragile“ ein Album über die Liebe. Oder über die Einsamkeit – welchen Unterschied macht das schon? Der Titelsong erzählt von einer Erscheinung: „She shines/ In a world füll of ugliness/ She matters/ When everything is meaningless.“ Mit dieser Frau zu leben, den perfekten Ort zu finden, sich vor der Welt zu verstecken – ein frommer Wunsch, leider utopisch. „Please“, plärrt er, «will you please complete me.“ Doch immer wieder entgleitet die Geliebte, stört die eigene Verwirrtheit, und Freunde existieren in Reznors Universum sowieso nicht. „Where Is Everybody?“ heißt bezeichnenderweise ein Song, ein anderer „Starfuckers Inc.“. Plötzlich wagt der Fürst der Finsternis sogar ein Augenzwinkern – er zitiert Carly Simon: „You’re so vain/ 1 bet you think this song is about you/ Don’t you?“ Jede Wette, Marilyn wird’s lieben. Es ist nichts schockierend Neues auf „The Fragile“, es ist nur besser denn je arrangiert und ausgelotet. Wer nach „The Dorvnward Spiral“ wochenlang verstört und eingeschüchtert in der Ecke saß, muss nun nicht zittern. „The Fragile“ ist viel versöhnlicher. Diese Welt liebt Trent Reznor immer noch nicht – wohlfühlen wird er sich hier wahrscheinlich nie mehr, aber die Angst ist ihm anscheinend abhanden gekommen. Der Mann weiß, was er tut. Er weiß, dass es gut ist. Und er weiß, dass er nicht mehr viel zu furchen hat Früher konnte man nach einem Nine Inch Nails-Konzert kaum noch nach draußen gehen, zu feindlich schien alles zu sein. Jetzt erinnert sich Reznor auf einmal sogar an den „sweet smell of sunshine“. Und die Welt ist nicht mehr schwarz, sie wird dunkelbunt