Short Cuts von Wolfgang Doebeling
Formidabel
Die Zeiten der langen Flanellhemden, kurzen Hosen, zerschlissenen Turnschuhe und Superfuzz-Pedale gehören auch bei den Gen-X-Pionieren SubPop längst der Vergangenheit an. Kommerziell kriselt es im Empire, das auf Grunge gegründet wurde. Der Warners-Deal endete on the rocks, und musikpolitisch machte man schon vor geraumer Zeit eine Kehrtwendung (an dieser Stelle grüßen wir die Freunde von Glitterhouse). Die Hemden wurden kürzer, die Hosen länger, die Sneakers teurer, und an die Stelle von Bigmuff-Lumpenrock trat eine sehr erwachsene Mischung aus rootsigen Tönen und intelligentem Pop. DAMIEN JURADO fallt in letztere Kategorie, und seine LP „Wetters Ave. S.“ siedelt nur einen Steinwurf entfernt von Elliott Smiths „Either/Or“und Richard Davies'“Telegraph“. Produziert von Steve Fisk und beinahe barock instrumentiert (Posaune, Trompete, Harmonium, Hainmond, Mellotron, ein Meer von Gitarren), sind Jurados Songs indes weniger fragil als Smiths, sehniger und muskulöser als die von Davies. Verschroben sind sie freilich auch: „Space Age Mom“, „Purple Anteater“, „Halo Friendly“! Ergötzlich.
Ebenfalls noch aus dem Nachlaß ignorierter Kleinode aus dem vergangenen Jahr stammt „Yesterday Tomorrow And In Between“ (Sing, Eunuchsl/Munich) von SIMON JOYNER, eine Doppel-LP, deren Bezüge so klar wie klassisch sind, die aber dennoch unwillkürlich in ihren Bann zieht. Das Foldout-Cover öffnet sich zu einem „Blonde On Blonde“-Remake, das bis zur Track-Aufteilung über die vier Seiten durchgehalten wird (4:4-5:1). Die letzte Seite, wo Dylan „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ zerdehnte, nimmt bei Joyner „The Passenger“ ein, das Tune gleichförmig, gebetsmühlenhaft und schier ohne Ende. Die Bobparallelen enden hier zwar nicht, auch Joyners Folk-Rock ist hochorganisch, wenn auch sanfter, und so manche Textwendung trägt dylaneske Züge, doch kommen die Melodien mehr nach Leonard Cohen, und die Grundstimmung gemahnt an Townes Van Zandt Lichtblicke gewährt diese Lyrik nicht „It’s opaque and it’s blue“, wie es in einem der Songs treffend heißt.
Akzeptabel
Seine ehemalige „Band“ Timbuk 3 hat man in ebenso guter Erinnerung wie ihren einzigen Hit, das hintergründige „The Future’s So Bright, I Gotta Wear Shades“. Inzwischen hat sich PAT MACDONALD, die eine Timbuk-Hälfte, von der anderen, Gattin Barbara, getrennt. „Sleeps With His Guitar“ (ulfTone/EMI) ist ein Solo-Debüt, an dessen primär akustischer Oberfläche einiges an Wohlklang aufgeboten wird, modern verklausuliert, verhallt, versteckt. Darunter aber beißt MacDonald, tritt gegen Schienbeine, politisiert illusionslos, spritzt Säure. Am beunruhigsten in „Drive Me Around“: Die Steel Guitar insinuiert Sehnsucht, die Worte meinen Tod. Perfide.
THE SILOS haben ihreDrohung wahrgemacht und mit „Cooler“(Normal) eine Platte veröffentlicht, die randvoll ist mit Electronica: Trance, Club-Beats, Discodonner, Samples zwischen Pferdegewieher und haarsträubend sägenden Gitarren. Remixe meist von „Heater“-Tracks sowie Exzerpte aus dem Soundtrack zum Film „I’m Not Jim“. Bei der Vertonung dieses Streifens, sagt Walter Salas-Humara, sei er überhaupt erst auf die Idee gekommen, das Trad-Alphabet seiner Süos um binäre Hieroglyphen aus dem Rechner zu ergänzen. Bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, ist von den Songs freilich kaum noch etwas übrig. Sound satt – Substanz dürftig. Der Weg war wohl das Ziel.
An Substanz nie fehlen lassen es THE CHIEFTAINS, die mittlerweile so ziemlich jedes musikalische Gefilde des Globus durchmessen haben. Was sie in den letzten 20 Jahren leider meist vermissen ließen, ist Stil. Und, bei etlichen eher unappetitlichen Kollaborationen, Stolz. „Tears OfStone“ (RCA7 BMG) ist wieder eine dieser überproduzierten, angekitschten Irish-Soul-Feiern, die nicht fern des „Riverdance“-Schmarrens stattfinden, weit weg von jeder Folk-Authentizität. Nicht ohne Highlights natürlich. Ein gutes Dutzend prominenter Sängerinnen haben Paddy Moloney und seine alten Jungs diesmal ins Studio gebeten, und die meisten ziehen sich ordentlich aus der Affäre: Bonnie Raitt Natalie Merchant, Joni Mitchell, Sinead O’Connor. Der Rest bleibt blaß.
Da sind die Chicks von DEMOLITION GIRL aus anderem Holz geschnitzt, auch wenn nicht alle Punk-Fetzer auf J’anne um Mittemacht „(Thunderwoman) gewaltig kommen. Sex und Energie setzt es kübelweise, die Cuts sind kompakt und schneidend wie Klappmesser, doch nur wenige Songs haben die Kraft, sich in den Gehörgängen festzukrallen. „Get Raped“, „Poodle Fan“, „Hider’s Brain“: gerade erst gehört, schon vergessen.
Was die Ramones für Demolition Girl, sind die Stones für die BLACK CROWES. Für „B Your Side“(Columbia/Sony) haben die Gebrüder Robinson das musikalische Hilfspersonal ausgetauscht und sodann in die elf Tracks soviel Faces-Bonhomie und Free-Riff-Spirit injiziert, wie die Pumpe ihres runzligen Southern-Boogie gerade noch verkraften konnte. Mit „Welcome To The Goodtimes“ gelang ihnen gar ein guter Song. Back to basics also und qualitativ deutlich oberhalb ihrer letzten, extrem lausigen LP „Three Snakes And One Charme“. Möglich, daß Chris Robinson deshalb soviel Emphase in die autobiographische Zeile legt: „I’ve been over the hill and back.“ Stimmt genau, und die Richtung sowieso.
Nicht so bei WISHBONE ASH. Die haben für „Trance Visionary“ (Resurgence/EFA) den Sequencer ausgepackt und substituieren ihre ehedem charakteristisch verschwiemelten Twin-Guitars durch Keyboard-Sounds aus der Retorte. Hier und da blitzt sie noch auf, die Musikalität der Herren Powell und Bennett, doch ist das meiste schnöde programmiert. Trance? Ja, mit Prog-Ballast. Visionär? Hoffentlich nicht.
Indiskutabel
Alles noch erträglich. Tragisch wird es erst jetzt: THE STRANGLERS, eine einstmals große Band, der wir „No More Heroes“ und „Peaches“ verdanken, ist nach langem Siechtum ins musikalische Koma gefallen. „Coup De Grace“(Eagle) ist ein Synm-verklebtes Nichts, die Songs jämmerlich, die Aufnahmen läppisch. Hugh Cornwell, der das sinkende Schiff vor Jahren schon verlassen hatte, sitzt sicher irgendwo und grinst. Dabei ist es zum Weinen.
Verklemmt in nekrophilen und gewaltgeilen Perversionen suhlen fünf Ossis, die sich DIE ALLERGIE nennen und ihre Musik „Deutsch-Core“. Wer glaubte, mit Rammstein sei der Boden des Bottichs schon erreicht, sieht sich getäuscht „Dunkelgraue Lieder für das nächste Jahrtausend“ (Rise Up) wie „Fleisch , „Totmacher und „Sturm“ erst vermitteln eine Ahnung davon, wie tief der Mensch sinken kann. Das musikalische Äquivalent einer Eiterbeule. Gut gewählt, der Band-Name.