TIBETAN FREEDOM CONCERT :: Capitol/EMI

Alle sind für Tibet, keiner ist für China. Die tibetische Gebetsmühle rattert überall, lange schon in Hollywood, bei den Beastie Boys, jetzt in der amerikanischen Rockmusik – und bei Noel Gallagher. Beim „Tibetan Freedom Concert“ in New York war der Proletarier der Überraschungsgast unter den von Beastie Boy Adam Yauch zusammengerufenen Kollegen. Bisher beschränkten sich Gallaghers religiöse Interessen auf das Herunterbeten von Pop-Klassikern, seine politischen auf Kommentare zum Drogenkonsum und Sekttrinken mit Tony Blair. Was er in New York wollte, weiß man nicht Vielleicht war er gerade in der Nähe. Doch nun ist es evident: Noel Gallagher, kein Zweifel, ist der britische Springsteen. Sein schwergängiges „Cast No Shadow“, herrlich untalentiert zur Elektrischen gesungen und ganz ohne Bruders Hilfe, wirkt hier angenehm deplaziert.

Doch was wirkt nicht deplaziert? Patti Smith nutzt den Anlaß ausgerechnet für eine Erinnerung an Kurt Cobain, der ja mal ein Lied „About A Girl“ geschrieben hat. Die Spezialistin für Nekrologe und Epitaphe ruft ihm nun ein „About A Boy“ hinterher und klingt dabei mindestens wie in der Kirche. Der Frömmler Ben Harper, immer fürs Grundsätzliche im Einsatz, rockt „Ground On Down“ (auf seiner berühmten Weissenborn-Gitarre?). Vikar Bono schmettert „One“, immerhin eines der ergreifendsten Stücke von U2. Inbrunst! Bombast! Emphase! Hier sind sie wieder, die guten alten Katholiken – im ökumenischen Büßergewand.

Zu Beginn des Dreierpacks gibt es ein „Opening Day Prayer“, atmosphärisches Gelichter. Zum Ende, jawohL ein „Closing Prayer“. Das muß man sich mal vorstellen: wie ein Stadion voller Amerikaner in buddhistischer Eintracht jedes Brimborium mitmacht, weil Pop-Musiker auf der Bühne stehen. A Tribe Called Quest, nicht als Betbrüder bekannt, bleiben im Kontext: „Oh My God!“ Und fordern: „Everybody say ,Oh my god!'“ Und alle tun es! Welcher Gott bloß, das ist hier die Frage. Jeder glaubt, woran er will, nur der guten Sache sind sich alle gewiß.

Die schon durch den Benefiz-Wirbel nach dem Tod der englischen Rose aufgeworfene Frage, ob die Super-Spektakel der 80er Jahre zurückkehren, wird täglich bedrängender. Waren die rechtschaffenen Gutmenschen damals ausgewiesene Mildtäter (Peter Gabriel für Afrikaner und amnesty international, Sting für den Regenwald, Tracy Chapman fürs Alibi und Bob Geldof für alle), haben wir es heute mit Paranoikern wie dem Radiohead-Vorsteher Thom Yorke zu tun – einem Mann mithin, der sich der Erforschung kosmischer Phänomene (im eigenen Hirn) eher widmet als geplagten Völkern in Tibet. Yorkes wunderbarer Beitrag heißt „Fake Plastic Trees“ – typisch Tibet Und der beste Track dieser Sammlung. Allmählich bekommt Michael Stipes Geständnis, Radiohead machten ihm angst, so gut seien sie, eine Wendung ins Realistische. Jetzt sind sie schon viel besser als R.E.M.! So werden Radiohead am Ende des Jahres – knapp hinter den Rolling Stones, natürlich als Band des Jahres durchs Ziel gehen.

Sonic Youth haben sich vermutlich über das Weiße Rauschen für die Teilnahme qualifiziert: Leere gleich Nirwana gleich Buddhismus. So wird ein Schuh aus allem. Es ist halt die gute Absicht, die zählt Würde ja auch nicht mehr verwundern, wenn sogar die unbestechlichen Spice Girls fanden: „Dalai Lama cooler Typ.“

Auf der zweiten CD kommt Michael Stipe, nur begleitet von Mike Mills: „Electrolite“, ein Stück von „New Adentures In Hi-Fi“. Der spirituell trainierte Eddie Vedder trat mit Mike McCready auf. Die Mighty Mighty Bosstones, eine Klamauk-Ska-Truppe, waren ebenso dabei wie Lee Perry und der Mad Professor, wie Pavement und Blur, wie Alanis Morissette und Björk. „Live Aid“ revisited! Nur Phil Collins fehlte – er konnte diesmal nicht von London nach New York fliegen, um quasi zur selben Zeit an zwei Orten zu musizieren. Die alte Garde wollte niemand sehen, wohl aber Cibo Matto, De La Soul, Rage Against The Machine und die Fugees. Und Beck, dessen „Asshole“ ein trefflicher Beitrag ist.

Kurz gesagt: Der Tibet-Wahn hat erschreckende Dimensionen angenommen „Tibetan Fveedom Concerl“ ist dennoch das politisch korrekteste, musikalisch gemischteste Weihnachtsgeschenk, das sich denken läßt Der Diana-Tribut ist bloß etwas fürs Kitsch-Herz, das Tibet-Konzert demonstriert anständige Gesinnung, Geschmack und Herz zugleich. Vom Musikverstand mal zu schweigen.

Machen es die Jungen also besser als die Alten? Nicht wirklich. Das Engagement hat sich gewissermaßen ins Unendliche verlagert. Denn hinter der Chiffre „Tibet“ verbirgt sich natürlich alles mögliche, nur nichts Konkretes. Daß sich auch mit Unpolitischem politisch etwas bewegen lasse, wenn es denn laut ist, ist ein populärer Trugschluß, der in der Hippie-Gründergeneration verwurzelt sein muß. Der löbliche „Milrepa Fund“ mag das längste Placebo der Welt sein – die Chinesische Mauer ist länger. „Tibet“ steht auch für das schlechte Gewissen des Westens, der kollektiv nicht das mindeste Interesse an Veränderung hat Der Rockmusiker an sich ist wie immer der Popanz, der stellvertretend für die allgemeine Ohnmacht vor den Thronen aufgebaut wird. Auf daß nichts passiere außer besinnlichen Filmen und aufmüpfigen Festivals.

Alle sind für China, keiner ist für Tibet.

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