DER EISSTURM von Ang Lee :: ab 18. Dezember
„Sie sind wie eine Familie. Und je mehr Kraft sie haben, desto mehr können sie sich gegenseitig verletzten, ohne es zu merken.“ Im Heft Nr. 141 müssen „The Fantastic Four“ einen Feind abwehren, der ihren Zusammenhalt bedroht. Das Superheldenquartett ist ein hübsches Bild für die amerikanische Familie. Eine wie die von Paul Hood (Tobey Maguire), einem normalen 16jährigen, der mit dem Comic in einer Bahn sitzt, die kurz vor Mitternacht irgendwo zwischen New York und New Canaan, Connecticut, stehengeblieben ist. In andächtiger Stille beginnt „Der Eissturm“ mit einem Kameraschwenk, der sich entlang der vereisten Schienen auf einen dunklen Waggon zutastet. Dann knistern Funken an der Stromleitung, flackert das Licht auf, rollt der Zug mit einem Ruck an, als hätte das Herz kurz ausgesetzt, wäre die Zeit verharrt. Der Anfang ist eine Besinnungspause vor der Chronologie, und am Ende wird sich die Sequenz im Schlußakt wiederholen und als Menetekel erweisen.
Vor dem Eissturm wird im Fernsehen gewarnt, ein anderes Programm überträgt die Anhörung zur Watergate-Affare. Es ist der 23. November 1973, zehn Jahre nach dem Attentat aufJohn F. Kennedy, fünf Jahre nach dem Summer of Love und der Tag, an dem der diskreditierte Präsident Richard Nixon beleidigt verkündet: „Ich habe die Angewohnheit, jeden Abend meine Erlebnisse zu diktieren. Ich denke, das werden am Ende die genaueren Aufzeichnungen der Geschichte sein.“ Der bucklige Neurotiker sollte sich irren, und Enthüllungen über seine Paranoia und gescheiterte Politik ziehen sich als roter Faden durch Ang Lees („Sense And Sensibility“) Sittengemälde der Siebziger, das mit kubischer Komposition die emotionale Leere und leere Moral des Bürgertums umkreist, von der teenage angst erzählt und kindischen Konfusion der Erwachsenen.
Männer machen „Deep Throat“, einen Low-Budget-Blow-Job-Hardcore-Porno, zum Megaseller. Unbefriedigte Ehefrauen stehen auf dem Buchflohmarkt unentschlossen vor Postulaten wie „The Free Woman“. Gruppensex und Partnertausch, als sexuelle Revolution oder freie Liebe apostrophiert, hat jetzt auch die Vororte erreicht, wo der alternative Lebensentwurf zwar eher als Triebtheorie in der Phantasie zirkuliert, aber immerhin raunt man sich mit aufgesetzter Lässigkeit den neuesten Kitzel durch sogenannte keyparties zu, auf denen Männer ihre Autoschlüssel in eine Schüssel werfen und Frauen am Ende jeweils einen herausfingern. Eine One-Night-Stand-Lotterie, die eine Doppelmoral und spießige Dekadenz entlarvt und sich für die Hauptfiguren nicht als Erlösung oder die Lösung ihrer Eheprobleme, sondern als alptraumhaftes Mißverständnis entpuppt. Und das am traditionsreichsten Familienfest: dem berüchtigten Thanksgiving.
New Canaan, Connecticut, ist ein typisch neuenglischer Familienhort. Und wie alle Ehemänner und Angestellten steht Ben Hood (Kevin Kline) mit beigem Trenchcoat, Hut und dem „Wall Streetjournal“ morgens am Bahnhof. Die knappe Karikatur illustriert famos, wie Lee seine Charaktere feinsinnig überführt und einer liebevollen Lächerlichkeit übergibt. Die Liebe zwischen Elena (Joan Allen) und Ben ist fast auf dem Nullpunkt verkümmert. Während Elena sich zuerst selbstmitleidig-verträumt in ihre Kindheit zurückzieht, indem sie wie ihre 14jährige Tochter Wendy (Christina Ricci) wieder ein Fahrrad besteigt und sich beim Klauen erwischen läßt, hat Ben eine kühle Affare mit Janey (Sigourney Weaver), der Ehefrau seines Nachbars Jim Carver (Jamey Sheridan), der häufig auf Geschäftsreisen ist. Es ist ein desperater Spaß, wie Ben sich im Bett abmüht und danach bei einer Zigarette über einen Kollegen lamentiert, der ihn beim Golf demütigen will, bis Janey bemerkt: „Du langweilst mich. Ich habe schon einen Ehemann.“ Ein anderes Mal läßt sie ihn vorm Sex alleine und halbnackt im Haus zurück. Er wartet, süffelt Wodka, schwingt viril im Wohnzimmer einen Golfschläger und entdeckt dann Wendy, die mit einer Nixon-Gummimaske über dem Kopf am Perus vonjaneys lojährigem Sohn Mikey (Elijah Wood) fummelt. Ben zürnt und erkennt, wie alle Väter, die eigene Peinlichkeit nicht.
Die Sprachlosigkeit ihren Gefühlen und dem anderen Geschlecht gegenüber führt zu wunderbaren Dialogen und Typenporträts. Der recht intellektuelle, introvertierte Paul verliebt sich natürlich ins berückendste Mädchen, kann es aber auch mit seinem Flirt „Wenn du ‚Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘ magst, wird dir ,Der Idiot‘ sicher auch gefallen“ nicht betören, da sie ihm sein flapsiger Kumpel wegschnappt, mit dem er Drogen-Cocktails anrührt. Mikey ist ein apathisches, kauziges Genie etwa wenn er seinem kleinen Bruder Sandy (Adam Hann-Byrd) Geometrie so erklärt: „Zwei mal zwei ist vier. Das ergibt einen Raum. Nicht wirklich – nur im Kopf.“ Sandy reagiert derart neurotisch, daß er Soldatenpuppen lyncht und Plastikflieger mit Böllern zerstört. Janey gibt ihm eine Peitsche, womit er die Rosen im Garten zerschlägt. Wendy, die ihren Vater einen „Faschisten“ nennt und von Sexualhormonen gekitzelt wird, bietet Sandy das Spielchen „Zeigst du mir deines, zeige ich dir meines“ an. Er schreit. Während die Hoods und Carvers auf ihrer ersten Schlüsselparty ein Desaster erleben, Wendy und Sandy kuscheln, Paul vom enttäuschenden Date in New York gerade noch den Zug erreicht, überzieht eine märchenhafte Eisschicht die Landschaft. Mikey tänzelt euphorisch durch die Natur, da „sich keine Moleküle bewegen, die Luft ganz rein ist“. Der Eisturm, ein verheerendes Wunder an Schönheit und eine Metapher, um die herum Lee zwei Stunden fragile, unterkühlte Beziehungen balanciert, entlädt in einer Tragödie für einen spirituellen Moment vollkommene Klarheit und Nähe.
Morgengrauen. Die Familie wartet, als der Zug New Canaan, Connecticut, erreicht. Paul sieht seinen Vater weinen. Die „Fantastic Four“ haben noch mal gesiegt. Und in der Luft bei den Molekülen liegt bittere Hoffnung.