Genesis :: Calling All Stations
Eine unfaßbar langweilige Platte. Nein, wirklich. Nicht, weil der sogenannte Progressive Rock dieser Tage beliebt ist wie Rinderwahn und über Genesis sowieso alle Musiksinnigen gern und laut lästern, seit Phil Collins vor einigen Jahren als Schnulzist und Hauptfeind alles Wahren und Wichtigen ausgemacht und seine Band gleich mit zum Abschuß freigegeben wurde. Aber man müßte schon verdammt in den Genesis-Sound vernarrt sein, um diese einfalls- und dynamikarmen 67 Minuten atemloser Üppigkeit gut zu finden. Fast hätte es sie ja nie gegeben: Phil Collins ist weg, das dürfte sich herumgesprochen haben – er will sich in Zukunft auf seine Solo-Karriere beschränken.
Und damit standen Tony Banks und Mike Rutherford zum vierten Mal vor der Frage, ob es überhaupt sinnvoll sei, weiterzumachen. Die britische Sudelfeder Julie Burchill argwöhnte ja schon anläßlich der letzten Genesis-LP 1991, die Herren machten eh nur noch Musik, weil ihnen nichts anderes einfalle; aber vielleicht reizte Banks und Rutherford tatsächlich die Chance, den Genesis-Sound ohne Überschneidungen mit dem Collins-Werk neu zu definieren.
Sie versprachen Rückbesinnung auf alte Qualitäten, was manchem wie eine Drohung geklungen haben mag – und engagierten als neuen Frontmann den 28jährigen Ray Wilson, vormals der Sänger beim schottischen One-Hit-Wonder Stiltskin. Wilsons Timbre ist stellenweise verblüffend nah an dem von Peter Gabriel, doch hat er weder dessen Charisma, noch die unverkrampfte Präsenz von Collins, der mit seinem Pop-Instinkt und seiner Melodienseligkeit ein gutes Gegengewicht zu Tony Banks war.
Hier kippt Banks seine typischen, klug-verqueren Akkordfolgen in Gestalt zähflüssiger Synthesizer-Klänge allzu üppig über alles; nirgendwo ist Platz, nirgendwo Luft, und in Sachen Sounds, Samples und Substanz passieren die interessanten Elektronika natürlich längst ganz woanders. Rutherford spielt seine vertrauten Parts, rhythmische Stakkato-Linien sowie metallene Breitseiten, am Schlagzeug tut ein gewisser Nir Z aus Israel sein Bestes, um Collins nachzuempfinden.
Und so mühen sie sich auf altvertraute Weise, aber in schlechter Form durch permanent düstere, trübe, ausschweifende Tracks voller kaputter Beziehungen, Frust und Vferlorenheit, voller „broken promises“, „uncertain weather“ und „footsteps fading in the sand“. Manchmal ist es ganz schön, wie sie ihre Marotten pflegen und alle Moden bombastselig ignorieren, und ein Groove wie der des neunminütigen „The Dividing Line“, praktisch ein einziges Schlagzeug-Solo in Collins-Manier, dürfte im Konzert sehr effektvoll sein – aber die für eine so dienstalte Band einmalige Leistung, mit jeder neuen Platte die Umsätze der vorangegangenen zu übertreffen, wird Genesis diesmal nicht gelingen.
„Calling All Stations“ ist nervtötend groß und zwanghaft wuchtig, eintönig und eindimensional. Man kriegt richtig Lust auf Marillion… Nur Spaß.