Drucksachen von Wolfgang Doebeling
Die Rolling Stones sind, so möchte man denken, publizistisch bis auf den letzten Tropfen ausgepreßt und wahrhaft erschöpfend analysiert, katalogisiert, seziert. Zahlreiche Biographien und zahllose Bildbände füllen ganze Bücherschränke, es gibt Fan-Folianten und Text-Exegesen, sündhaft teure Foto-Editionen, Memorabilia-Schwarten, Zitatensammlungen und Bill Wymans libidinöse Abenteuer als Autobiographie. Das sollte genügen. Keinesfalls, sagt Chronist Felix Aeppli, und legt ein 600seitiges, großformatiges Drei-Kilo-Konvolut vor, dessen Faktenfiille erschlägt und neue Standards in der Sparte Trainspotting setzt: „The Rolling Stones 1962 bis 1995: The Ultimate Guide“ (Record InfbrmationServices, 208 Stanstead Road, London SE23 1DB, gebunden, ca. 200 Mark). Ein Werksverzeichnis nennt Aeppli hübsch untertreibend den auf 2000 Exemplare limitierten Wälzer, für ihn eine Fleißarbeit ohnegleichen, für den Fan eine Fundgrube ohne Boden. In 3000 Eintragungen finden sich die Fakten über sämtliche Sessions, Studios, Musiker, Platten (inclusive Bootlegs), über 1629 Konzerte, alle Venues, 444 TV-Shows, Filme, Videos und 1402 Songs, alles übersichtlich geordnet und über verschiedene Indexe leicht in den Griff zu kriegen. Fündig wird, wer sich für peruanische Pressungen interessiert oder wissen möchte, bei welcher Gelegenheit Brian Jones mit Bob Dylan, Bob Neuwirth und Robbie Robertson spielte. Was leider fehlt, ist eine vollständige Bibliographie und eine Auflistung aller Coverversionen von Jagger/Richards-Songs, die längst in die Hunderte gehen. Somebody’s got to do it. 4,5
Nur für Floydianer unverzichtbar ist „Another Brick In The Wall“ (Carlton, 50 Mark) von Cliff Jones, der im Untertitel gelobt, „the stories behind every Pink Floyd song“ zu enthüllen. Was wie eine Drohung klingt, entpuppt sich aber als durchaus vergnügliche Lektüre, nicht nur in den Passagen über die frühen, Bluesversessenen Floyd oder ihre psychedelische Phase unter der Ägide von Syd Barrett, sondern auch über den ganzen Pomp & Circumstance, der ab „Atom Heart Mother“ einsetzte (an dieser Stelle wird John Peel geoutet) und spätestens ab 1977 zum Himmel stank. Am Ende steht ein Apparat, dessen Aggregate bei Bedarf angeworfen werden, technologisch top, außen farbenprächtig, innen hohl. Und jetzt alle: We don’t need no education… 3,0
Unwahrscheinlich, daß Greil Marcus in diesen oder irgendeinen anderen Abgesang auf Bildung einstimmen würde. Unwahrscheinlich, daß er überhaupt singen kann. Braucht er auch nicht, denn der Mann kann schreiben. Immer noch. Nicht mehr so fulminant und fetzig wie in „Mystery Train“, stilistisch gestelzter, aber nach wie vor klarsichtig und scharfeüngig. „Der Mülleimer der Gschichte“ (Rogner & Bernhard, 33 Mark) ist ein kurzweiliger Reader, eine Reihe kulturkritischer Essays, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren in Zeitschriften erschienen sind und größtenteils verdienen, ein weiteres Mal publiziert zu werden. Manches liest sich wie ein Report aus der Klapsmühle, weil Marcus nicht der Versuchung erliegt, die Popkultur zu entlarven, sie ihres Wahnwitzes zu entkleiden. Statt dessen unterzieht er sich der Mühe, außerhalb der geschlossenen Popanstalt Bezugspunkte zu finden zur dort herrschenden Idiotie. Hermeneutik ist ihm fremd, die Grenzen weit gesteckt. Das haut nicht immer hin, manches ist redundant. Wie die bemühten Ausführungen über Handke und den Symbolismus in Amerika. Das meiste ist indes lesenswert: Der von der Jesus-Last befreite Bob Dylan und sein „Blind Willie McTell“, Cowboystiefel und Deutsche (darin versteckt: Genie und Ethik), eine Eloge auf Robert Johnson (wovon es nicht zuviele geben kann) und eine Polemik über Mythen und falsche Zitate, die in einem Historikerstreit kulminiert, einem kuriosen Briefwechsel zwischen Marcus und Stanley Booth über den Mord in Altamont und die Schuldfrage. How bizarre. 4,0