Replays 2 von Bernd Matheja
Die Band HOME hatte kein Zuhause, stilistisch gesehen. So schien es zumindest, als das Quartett um 1972 plötzlich auf der englischen Szene auftauchte. Mal klangen sie verdammt nach America – mit außergewöhnlich gutem Harmoniegesang und -Verständnis. Dann wieder wurde der geneigte Hörer an die lichtesten Momente von Barclay James Harvest (jawoll, die gab es!) erinnert – mit gefühligem Soft-Geschrammel auf der Zwölfsaitigen. Und wenn die Top-Gitarristen Laune Wisefield (später in Diensten von Wishbone Ash) und Mick Stubbs ins fugenlose Perlen kamen, schlich sich heimlich Mr. Albert Lee ins Bild – so, wie das schlechte Gewissen aus der TV-Weichspüler-Werbung. Home waren Prädikats-Softies, ihre zweite LP „Home“ (Columbia 484 440/SMIS) ist ein Lehrstück dafür, daß lupenreiner Schönklang nichts mit Notensirup gemein haben muß. Dieser zurückgenommene Leichtgitarren-Rock verdient eine Benotung von 4,0.
Zur selben Zeit gab es in England die Band STACKRIDGE. Eine derjenigen Formationen, die bei Schreiberlingen mit verkniffener Kompetenzmiene immer gute Karten haben werden, obwohl sie die Musik eigentlich gar nicht ausstehen können. Die Band um Sänger Mick „Mutter“ Slater wollte auf Saite, komm‘ raus „anders“ sein (wie ihre Jubel-Kritiker) und schaffte dies mit einer Art Verquer-Folk, der überall hinging – nur nicht ins Ohr. „The Man In The Bowler Hat“ (Edsel EDCD 488/Contraire) wurde von George Martin produziert, der aber bekanntlich auch nur ein Mensch ist Gewöhnungsbedürftige Verspieltheiten, die sich gut für musikwissenschaftliche Seminar-Arbeiten eignen könnten. 2,0
Lange Zeit vergriffen, jetzt wieder (im neuen Pappschuber) erhältlich: „TOMMY“ als Lou-Reizner-Produktion aus dem Jahr 1972, mit dem London Symphony Orchestra & Chambre Choir (Castle/Essential ESM CD 404/edel). Eine durchgängig gelungene Einspielung dank der illustren Sanges-Gäste in verteilten Rollen: Steve Winwood, Rod Stewart, die große Maggie Bell (wer veröffentlicht endlich ihre Solo-LP sowie Bell & Are und Every Which Way auf CD?), Sandy Denny, Merry Gayton, Richie Havens. Dazu die Who-Herren Townshend, Entwistle und Daltrey. Ohne Ausnahme (trotz Ringo Starr, der aber passend besetzt wurde) sehr hörenswert und absolut nicht zu verwechseln mit dem Unrat, als der sich so viele Band-/Orchester-Projekte rund um den Jahrzehntwechsel entpuppten. Klarer Fall von 4,0 und völlig ungeeignet für einen Direktvergleich mit der Who-Version.
Werden Archiv-Ausgrabungen Verstorbener angeboten, schrillen zumeist die Alarmglocken. Und womit? Mit Recht. Zumindest in den meisten Fällen. Es gibt jedoch auch Ausnahmen, die einen regelrecht froh stimmen. „Scrubbers“ (Repertoire REP 4603/Contraire) ist so eine Geschichte. STEVE MARRIOTT, 1991 in seinem Landhaus verbrannt, hatte dieses Projekt 1974 in der Mache, das seine damalige Plattenfirma A&M aber ablehnte. Einer der Beteiligten, Keyboarder Tim Hinkley, rückte jetzt die Komplett-Bänder raus; insgesamt 20 Titel, auf denen ferner Clem Clempson (g), Greg Ridley und Boz Burrell (b), Ian Wallace (dr), Mel Collins (sax) und BJ. Cole (pedal steel) mitmitschten. Im Angebot (runde 70 Minuten) ist ein mit seltsamen Hall-Übungen versetzter Rohstoff mit vielen Small Faces-Partikeln (Augenzwinkern inklusive) und Blues-Exkursionen, mit Soulund Bluegrass-Schnipseln, mit Country-Feeling und pulsierendem Rock à la Humble Pie. Zu keinem Zeitpunkt beschleicht den Hörer ein Gefühl von Fledderei. „Scrubbers“ wirkt eher wie ein bislang fehlender Mosaikstein im Berichtsheft des kleinen, großen Musikers mit der schroffen Powerstimme. 4,0 für hochunterhaltsamen Mittsiebziger-Rock, wie er in dieser Form nur aus England kommen konnte.
WILLIE ALEXANDER aus Boston wird allzu gern und ebenso schnell in die Kult-Schublade verbracht, die aus inflationären Gründen allmählich wg. Überfüllung klemmt. Auf „Pass The Tabasco“ (MAUCD 646/Contraire) wurden zwei MCA-Original-LPs von 1978 aneinandergekoppelt, die auch 18 Jahre später keinerlei Anzeichen von Eigenständigkeit, Handschrift etc. vorweisen können. Eine ordentliche Endsiebziger-Kapelle von vielen, die keinen einzigen Song ablieferte, der – aus welchen Gründen auch immer – wenigstens halbwegs erinnernswert wäre. 2,0 für die hoffnungslos Überschätzten aus Amerika.
Rund zwei volle Spielklassen darüber bewegten sich LEVONHELM & THE RCO ALL-STARS (Edsel EDCD 494/Contraire). Der hochqualifizierte Schlagzeuger von The Band hatte sich mit Steve Cropper, Duck Dunn, Booker T. Jones, Dr. John, Paul Butterfield und anderen Größen zwecks Assistenz umgeben. Soul, Blues, Funk und Boogie, Baujahr 1977, Spielfreude satt! Eines der raren Solo-Projekte eines renommierten Gruppen-Musikers, bei dem sich das überragende Können der Solisten in einem spannenden, ausgezeichneten Ganzen wiederfindet und die gute Intention nicht von Beginn an erdrückt bzw. erstickt. Zeitlos gut, dafür 4,0.
Highlights von der Wiederveröffentlichungs-Front, die in den kommenden Wochen unsere Finanzen angreifen werden bzw. sollen: Verteilt auf zwei CDs, wird ein Werk-Querschnitt des ehemaligen Manfred-Mann-Sängers PAUL JONES erwartet (frühe Pop-Singles und Auszüge aus seinen unter Wert geschlagenen LPs). Ein wahres Prachtstück steckt mit DAN PENNs „Nobody’s Fool“ von 1973 (Bell) in der Röhre. Und auch für „Very Extremely Dangerous“ von EDDIE HINTON (Capricorn) sieht es nicht schlecht aus… Die CD-Abstinenz legendärer Projekte aus dem Muscle-Shoals-Dunstkreis dürfte damit bald ein Ende haben. Auch DONNIE FRITTS ist bereits im Gespräch. Schon da: frühe Aufnahmen von SCOTT WALKER auf „Looking Back With Scott Walker“ (bei Repertoire). Demnächst mehr!