Nicolette – Let No-One Live Rentfree In Your Head

Wer ist hier der Boß? Fast zeitgleich wehen zwei Alben aus England über den Kanal, die die gängigen Kategorien von Autorenschaft und Stardom durcheinanderwirbeln. Auf der einen Seite steht die Sängerin Nicolette, die sich DJs gesucht hat, um ihre Ideen in Klang umzusetzen; auf der anderen der DJ Tricky, der sich für sein Projekt Nearly God Vokalisten gesucht hat. Beide Werke sind – wir bleiben da auf dem Teppich – bahnbrechend, trotzdem geht Nicolette mit leichtem Vorsprung ins Ziel. Denn auf ihrer Seite lag das größere Risiko.

Leicht hat es die gebürtige Nigerianerin nie gehabt, seit Anbeginn wurde sie mit Billie Holiday verglichen. Eine Vorgehensweise, die mal wieder die limitierte Denkfähigkeit der Journaille demonstriert. Eine Schwarze, die den Blues singt, kann eben nur wie Billie Holiday klingen. Dabei hat Nicolette, vereinfacht gesagt, nie einem Mann nachgeweint. Jedenfalls nicht deshalb, um darüber zu singen. Die Wahrhaftigkeit liegt bei ihr nicht im durchlebten Leiden. Wenn schon Vergleiche her müssen, sei auf einige Alben von Abbey Lincoln verwiesen. Abgesehen von den Ähnlichkeiten in der Stimme, wird der Blues von beiden Künstlerinnen mehr als sensuelles Register benutzt.

Leicht hat es Nicolette nicht gehabt – auch weil sie mit „Now Is Early“ das Überraschungsdebüt des Jahres 1992 vorgelegt hatte. Jungle war noch das englische Wort für Urwald, da sang sie ihre eigentümlichen Blues-Songs schon zu Breakbeats. Aufsicht führte damals das hyperinnovative Produzententeam Shut Up And Dance. Doch ihr nächstes Album wollte die radikale Chanteuse unter Eigenregie aufnehmen, bis „Let No-One Live Rentfree In Your Head“ erscheinen konnte, dauerte es deshalb vier Jahre.

Zeit, die Nicolette zum Songschreiben genutzt hat Um ihre Entwürfe kompromißlos umzusetzen, produzierte sie einige Tracks selbst und heuerte für die anderen DJs aus verschiedenen Ecken an. „Beautiful Day“ unterlegt Plaid, ehemals Black Dog, mit vertrackten House-Beats. Deco von 4 Hero sorgt hingegen in „Song For Europe“ für samtene Jungle-Rhythmen. Und bei „Nervous“ jagt Alec Empire von Atari Teenage Riot Hardcore-Beats durch den Computer. Nach drei Minuten befiehlt die Chefin: „That’s it.“ Trotzdem legt der Techno-Punk noch ein Geschoß nach. Weil er nicht hören will, und weil es so schön ist. Sehr verspielt, sehr sinnlich, sehr wichtig, diese Platte.

Das gilt natürlich auch für „Nearly God“. Auch wenn Projekt-Leiter Tricky das Album, das auf seinem eigenen Label „Durban Poison“ erscheint, mehr als Schmankerl zwischen seinen regulären Werken begreift. Man kann es aber auch als Machtbeweis lesen: Hier ist der Mann auf dem DJ-Pult beinahe Gott, und die Stars unten am Mikro richten sich nach seinen Anweisungen (auch wenn er ab und an vom Olymp heruntersteigt, um selber zu singen). Aber Neneh Cherry und Björk beitzen genug Sinn für Abseitiges. Die Beats sind so, wie man es von es von einem Tricky-Album erwartet: spooky und spinnert, aber bis ins letzte Detail ausgeklügelt.

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