Tocotronic :: Wir kommen, um uns zu beschweren
Tocotronic sind jetzt bei einer großen Plattenfirma. Deshalb ist das Booklet zum neuen Album aus schwerem Hochglanzpapier. Das ist aber auch beinahe das einzige, was sich verändert hat. Denn die Fotos im Beiheft entsprechen wieder der hingekrümelten Polaroid-Ästhetik der Band, ihrer corporate identity mit Budnikowski-Tüten-Flair.
Natürlich muß eine Plattenbesprechung des neuen Tocotronic-Albums mit der Feststellung beginnen, daß bei den Hamburgern alles den gewohnten Gang geht. Denn viele, auch einige ihnen Wohlgesonnene, würden schon deshalb gerne eine Veränderung konstatieren, um die gängigen Vorstellungen des „Erwachsenwerdens“ bestätigt zu finden. Der Wechsel zum Major ist in diesem Punkt gar nicht so entscheidend – schon weil die Tocos weiterhin von ihrem Stammlabel L’Age D’Or betreut werden.
Vielmehr stellt sich vielen die Frage, ob denn nach den Ereignissen, die letztes Jahr über die drei hereingebrochen sind, alles so weitergehen kann wie bisher. Denn noch vor gar nicht langer Zeit spielten sie ihre Songs auf den Treppenstufen ihrer Lieblingsbars, um nur wenig später in größeren Hallen vor einem anonymen Publikum aufzutreten, das alle Texte mitsingen konnte. Und ihre Reime wurden in nicht kleinem Kreis als Bonmont für jede Lebenslage weitergereicht. Auf „Tocotronic“ wurde mehr gegeben, als ihnen lieb sein konnte. Bringt man sich um, verändert sich die Persönlichkeit, stellt sich sowas wie Reife ein?
Blödsinn! ,Jetzt geht wieder alles von vorne los“, stellt Dirk von Lowtzow gleich mit dem ersten Titel des Albums klar. Tocotronic denken nicht linear, sondern zyklisch. „Ich werde mich nie verändern“, knallt der junge Mann mit
dem seltsam fransigen Scheitel in einem weiteren Song all jenen entgegen, die ebendies für eine der wichtigsten Aufgaben des aufgeklärten Menschen halten. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Das Ganze hat nichts mit dem so gemütlichen Verharren im Rock’n’Roll-Biotop aus Verzweiflung, Spaß und Radau zu tun. Das ist irgendwann nur noch verachtenswert und führt von dem weg, was Tocotronic suchen – die Individualität.
Nach der stellenweise indifferenten Mini-LP „Nach der verlorenen Zeit“ ein Schnellschußversuch, Reaktionen auf die Reaktionen zum Debüt-Album zu zeigen – legen Tocotronic mit „Wir kommen, um uns zu beschweren“ ein sehr reflektiertes Album vor, was bei den notorischen Noise-Poppern heißt: Sie sind ungestüm und unausgewogen, gefühlvoll und gemein. Aber das sehr bewußt. Nicht umsonst beginnt die Hälfte der 16 Titel mit dem Wort „Ich“.
„Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ heißt einer der besten Songs. Hier werden ein weiteres Mal Reimtiraden in allerkürzester Zeit abgefeuert – Hate-Pop. Auf der anderen Seite stehen epische Stücke, wo ein paar hochemotionale Zeilen ausladene Feedbacks einleiten. Und den besten Humor besitzen Tocotronic immer noch. Auch wenn der oft unter arg desolatem Gesang vergraben liegt.