Tindersticks – Bloomsbury Theatre 12.3.95
Oscar Wilde singt. Und in Kopenhagen ist es kalt. Fassen wir es mal so zusammen, das Jahr der Tindersticks. Nie in den Charts gewesen, aber in allen Blättern. Die tragen Anzüge! Auch im Sommer! Auch in Amerika! Und Stuart Staples schwitzt! Auch auf der Bühne! Dann streicht er die Haare zurück, und zwischen den Fingern verglimmt die Zigarette. Die Augen sind halb geschlossen unter schweren Lidern, die Stimme scheint manchmal aus Schwäche zu versiegen. So groß sind die Gefühle, so schwer wiegen all die Streicher, daß die Last sogar die Lieder zu erdrücken droht.
„Bloomsbury Theatre“ dokumentiert den Auftritt der Tindersticks mit einem Streichorchester in London, eben am 12. März 1995. Es ist, nach zwei Alben schon, die Zwischenbilanz und der Beleg dafür, daß der Band mittlerweile traumwandlerisch gelingt, was früher beseelt improvisiert wurde: die Verzauberung, die Aufwallung, die Hermetik einer manieristischen Klang- und Denkwelt. In England erschien das Dokument als elegant ausgestattetes Vinyl-Doppelalbum; in Deutschland wurde der Mitschnitt lieblos mit dem „Second Album“ gekoppelt. An wen wendet sich diese Doppel-Ausgabe? Doch wohl kaum an jene, die das zweite Album bereits gekauft haben. Noch gewitzteres Marketing hätte auch das bisher nahezu unbekannte erste Tindersticks-Album dazugepackt. Die haben ja eh alle keine richtigen Titel.
Der Auftritt in der Hamburger Musikhalle, bei dem einige neue Stücke vorgestellt wurden, kündigte einen Zug zum Leichteren, zum Chanson, Kunst- und Kaffeehauslied an. „Bloomsbury Theatre“ enthält mit „For Those“ nur einen dieser milden Songs zum Abschluß. Natürlich wird „No More Affairs“ gespielt, „Mistakes“ und der „Sleepy Song“, „City Sickness“ vom ersten Album. Und der vielleicht wichtigste, gewiß der dramatischste Tindersticks-Song: „Jism“, ein wild in den Wahnsinn kreiselndes Couplet, eine Beichte, ein Abschiedslied: „If she had known me/ She’d shown me/ I need to taste her pain/ For encouragement.“ So beschwört Staples die Ausweglosigkeit – „and I whisper with my tongue between your toes“. Dem Staples auf den Kopf zu hauen, nützt gar nichts. Da muß man schon schießen.
Das voluminöse Orchester fügt den Stücken, gelinde gesagt, wenig an Dichte hinzu. Es ist gerade die Dichotomie von äußerster Behutsamkeit und Konzentration und anschwellendem Klang-Chaos an der Grenze der harmonischen Auflösung, die Tindersticks-Lieder einzigartig macht. Aber eine Geige reicht meistens. Oder ein winziges Klimper-Klavier, auf dem Staples am Ende die Melancholie eines Kinderliedes verklingen läßt, bis es still wird. Zum Stillwerden strebt hier überhaupt alles: Noch in den ekstatischsten Momenten spürt man die Sehnsucht nach friedlichem Schlummer. Die Tindersticks hätten kein Gedächtnis für die Momente selbst, rügte eine Kritikerin. Ganz recht: Denn in ihren Songs ist immer schon alles Erinnerung. „Think of me“, barmt Staples in „Drunk Tank“, „it never goes away.“ Keine Bitte. Ein Versprechen.