Jazz von Ralph Quinke
Seit den Erfolgen der Marsalis-Brüder Wynton und Branford in den Jazz-Charts haben sie Konjunktur, die jungen schwarzen Konservativen. Sie spielen wie die Hardbopper damals in den 60er Jahren. Ihr Sound ist der der „klassischen“ Bands von Miles Davis, Sonny Rollins und Herbie Hancock, nur ist er erheblich geschliffener, glatter – vielleicht kultivierter, aber auch ziemlich blutleer. Zwar beherrschen manche dieser gerade mal 20- oder 25jährigen ihre Instrumente so teuflisch perfekt, daß Vergleiche mit den Ikonen der Jazz-Geschichte angebracht sind, doch ihre Musik wirkt oft so steril wie eine Jazz-Kneipe mit Rauch- und Alkoholverbot. Zum Beispiel der Trompeter NICOLAS PAYTON: kann gut Balladen spielen. Aber sein Album „Front This Moment“ (Verve 527 0733-2): langweilig. 2,0
Oder den Saxophonisten TEODROSS AVERY: bläst einen schönen Sound auf seinem Hörn. Aber sein Album „In Other Words“ (GRP 97982): schlicht langweilig. 2,0
Oder den Pianisten STEPHEN SCOTT: solider Techniker. Aber „Renaissance“ (Verve 523 863-2): schlicht langweilig. 1,5
Warum auch auf Kopien zurückgreifen, wo im Moment doch zahlreiche Originale wiederveröftentlicht werden? Zum Beispiel „What Is This Thing Called Soul“ von CANNONBALL ADDERLEY QUINTET (ZYX OJCCD 801-2). Jazz mit viel Seele, live aufgenommen 1960 und kein bißchen angestaubt. Der 1975 an einem Gehirnschlag gestorbene Julian „Cannonball“ Adderley war nicht nur ein brillanter Altsaxophonist, ungeheuer präzise und mit einem Ton wie ein Glasschneider, sondern auch ein Pionier des Funk-Jazz. Er hat sich nie an ein von Kritikern aufgestelltes Reinheitsgebot gehalten, nie nur „puren“ Jazz gespielt. Seine Musik peppte er auf mit Blues-, Soul- und Gospel-Elementen, sie lebte von den synkopierten Beats, und es fällt heute genauso wie früher schwer, den Hintern ruhig zu halten, wenn Cannonball loslegt. 3,0
Ein Hit wird – darauf wette ich „Dance Of Fire“, das neue Album von AZIZA MUSTAFA ZADEH (Sony Music 480352 2), die die fragil wirkende, aber in Wirklichkeit ziemlich zickige Pianistin aus Aserbeidschan mit Jazzstars wie Al Di Meola, Bill Evans und Stanley Clarke aufgenommen hat. Dieses Album trifft sicherlich den Zeitgeschmack – mit seiner Mischung aus modisch gestyltem Jazz, Klassik light und moderat exotischer Folklore. Mich macht diese unerträgliche Seichtigkeit des Sounds ungefähr genauso aggressiv wie eine Fernsehserie mit Uschi Glas. 2,0
Er ist kein richtiger Komponist, kein richtiger Produzent, kein richtiger Bandleader, eigentlich nicht einmal ein richtiger Musiker: KIP HANRAHAN. Trotzdem gelingen ihm manchmal Platten mit genialischen Zügen: Im Studio trommelt er Musiker zusammen, die eigentlich gar nicht zueinander passen, und hemmungslos bedient er sich im Supermarkt der populären Musikgeschichte. Er mischt Free-Jazz mit Salsa, melancholische Rock-Balladen mit Tango-Figuren, schräge Bebop-Sprengsel mit merkwürdig fremden Afro-Rhythmen. Mal hört sich das völlig daneben an, dann wieder wie eine musikalische Offenbarung. So ist auch „All Roads Are Made Of The Flesh“ (American Clave 1029 2) eine Berg- und Talfahrt zwischen ziemlich aufregenden und äußerst banalen Momenten. 3,0
NGUYÊN LÊ ist Vietnamese mit Wohnsitz Paris. Er spielt Gitarre, und sein Sound läßt seine asiatische Herkunft nicht erahnen. Le klingt vielmehr wie die westlichen Pioniere der modernen E-Gitarre – ein bißchen wie Pat Metheny, ein bißchen wie Bill Frisell. Seinen eigenen Stil hat er zwar noch nicht ganz gefunden, aber sein Album „Million Wares“(ACl 9221-2) läßt immerhin ahnen, daß man von ihm in Zukunft noch hören wird. 3,0