Jazz von Ralph Quinke
Wie sich die Zeiten und der Zeitgeschmack doch ändern: Anfang der 70er Jahre, als Ex-Miles-Davis-Keyboarder HERBIE HANCOCK sein Album „Mwandishi“ veröffentlichte, war das mit das Aufregendste, was damals im Jazz erschien. Nur Miles Davis war noch interessanter. Joe Zawinuls Weather Report und John McLaughlins Mahavishnu Orchestra lagen gleichauf mit Hancock. Heute, mehr als 20 Jahre später, wiederveröffentlicht als Doppel-CD im Paket mit zwei anderen Hancock-Platten aus jener Zeit (Warner 9362-45732-2), klingt die Musik nur noch merkwürdig angestaubt – wie der Soundtrack zu einem Schlaghosen-Krimi aus den 70er Jahren. 2,0
Zeitlos dagegen und überhaupt nicht verstaubt eine Aufnahme, die schon mehr als 30 Jahre auf dem Buckel hat: BEN WEBSTER & JOE ZAWINUL: „Soulmates“ (ZYX OJCCD 109-2). Wenn Webster in sein Tenorsaxophon haucht, läuft es einem eiskalt den Rücken hinunter. So einen wohlig warmen, sanften Sound wie er hat kein anderer Saxophonist seinem Hörn entlockt. Der Wiener Pianist Josef Zawinul war 1963, als diese Platte aufgenommen wurde, ein Nobody, der seinen eigenen Stil noch nicht gefunden hatte. Doch zusammen mit der Rhythmusgruppe schlägt er sich wacker und bereitet den Boden für Ben Websters wunderbare Balladen. Ein Klassiker. 4,5
Das Zeug zum Klassiker hat sicherlich auch das neue Album des in den letzten Jahren mit Preisen überhäuften Tenorsaxophonisten JOE HENDERSON, „Double Rainbow“ (Verve 527 222-2). Die hat er dem brasilianischen Bossa-Nova-Pionier Antonio Carlos Jobim, dem Komponisten des „Girl From Ipanema“, gewidmet. Zwölf Stücke von Jobim spielt Henderson, begleitet von Brasilianern und US-Jazzern. Schöner Sound, schöner Rhythmus, schöne Stimmung ein bißchen wie das legendäre Getz/Gilberto-Album aus den 60er Jahren, allerdings ein bißchen rauher. Nur das „Girl From Ipanema“ fehlt. 4,0
Russische Revolutionsmärsche, afrikanische Highlife-Musik, chaotischer Free Jazz, komplexe 12-Ton-Klänge, schmissige Melodien aus dem Zirkus, gefühlsduselige Musette-Walzer aus Paris und Blues-Akkorde aus irgendeiner amerikanischen Großstadt – paßt das zusammen? Eigentlich schon, wenn man es nur richtig vermischt Der New Yorker Saxophonist HENRY THREADGILL, sonst eigentlich ein origineller Grenzgänger zwischen Jazz-Tradition und -Avantgarde, schmeißt auf „Curry The Day“ (Sony Columbia 478506 2) all diese und noch viel mehr Ingredenzien in einen großen Kessel, rührt um – und heraus kommt ein ziemlich ungenießbarer Eintopf. 2,0
Einen anderen, auf den ersten Blick nicht minder merkwürdigen Eintopf hat der norwegische Gitarrist TERJE RYPDAL aufgesetzt Doch im Gegensatz zu Henry Threadgills mißglücktem Versuch stimmen auf „If Mountains Could Sing“ (ECM 1554) die Zutaten und vor allem die Mischung: Sein Gitarre/Baß/Schlagzeug-Trio, mit dem er eine Art Heavy-Metal-Jazz spielt, läßt Rypdal auf ein klassisches Streicher-Trio treffen. Dabei entsteht eine magische Mischung aus dem glissierenden Sound der Rypdal’schen Gitarre, der streckenweise an Jimi Hendrix erinnert und zeitgenössischer Kammermusik à la Ligeti, aus Anklängen von Blues und skandinavischer Folklore. 3,5
Die Komponistin CARLA BLEY hat schon bessere Tage gesehen. Seit Mitte der 80er Jahre zehrt die Bley vor allem vom Ruhm von damals: In wechselnden Besetzungen tingelt sie durch die Lande und spielt ihre alten Hits. Letztes Jahr war sie im Trio mit dem Saxophonisten Andy Sheppard und dem Bassisten Steve Swallow unterwegs, und die Höhepunkte der Tour sind jetzt als Album erschienen: „Songs With Legs“ (WATT/26). Frei übersetzt: Songs mit Bart, die zwar immer noch großartig sind, aber leider allzu gut bekannt 3,0