Die Filme des Jahres
Als das vergangene Jahr begann, beherrschten Steven Spielbergs Dinosaurier noch immer deutsche Kinos. Die Illusion der prähistorischen Illustrationen war kaum vorbei, da brach die reale Moral der jüngsten Geschichte herein. Für „Schindlers Liste“ bekam Spielberg den ersten Oscar, sechs weitere das Werk. Was all den Dramen und Dokumentationen in 50 Jahren nie gelungen war, erreichte das erfolgreichste Kind des Kinos mit seinem Western über ein Wunder inmitten der größten Tragödie dieses Jahrhunderts. So versöhnte Spielbergs Schindler, ein Hurenbock und Heiliger zugleich, das oft gescholtene Hollywood und den Rest der Welt vor allem die Deutschen. Alles wird gut? Die Film-Collage des französischen Philosophen Henri-Bernard Levy, der schlicht Fernsehbilder aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg montierte, werden wieder nur wenige sehen. So leicht kann man es Zuschauern nicht mehr recht machen. Es muß schon ein monströses Melodram sein, perfekte und teure Imagination, um für einen Moment das Mitgefühl oder überhaupt die Gefühle der meisten Menschen zu rühren. Aber daran ist „Schindlers Liste“ nicht schuld.
Kino visualisiert unsere Wünsche, Ängste und eine Verstellung davon, was wir uns sonst nicht vorstellen können. Als vor fast hundert Jahren die Brüder Lumiere erstmals auf der Leinwand einen fahrenden Zug zeigten, sprang das Pariser Publikum noch entsetzt unter die Stühle. 1994 waren Kulturpessimisten über die Tricktechniken in James Camerons „True Lies“ und „Die Maske“ von Charles Russell geschockt. Russell perfektionierte den Grundgedanken von „Roger Rabbit“, Menschen und Comic-Figuren gemeinsam quasi in einem Parallel Universum auftreten zu lasssen, und schuf mittels Computer-Animation bei dem Schauspieler Jim Carrey die Grimassen und Grotesken des Cartoon-Meisters Tex Avery.
Cameron dagegen arbeitet beharrlich daran, die Fiktion zur neuen Realität zu erheben. Bei „True Lies“ ist das Prinzip der Manipulation bereits im Titel manifestiert. In diesem exorbitanten Spektakel aus Stunts, Schießereien und Sprengungen gaukelten Computer die größtmögliche Glaubwürdigkeit des Unmöglichen vor. Was störte, wurde weg digitalisiert. Wer Böses denkt, hält dies für cinematographische Gentechnologie.
Aber so wie der Tonfilm das Kino dem Leben nähergebracht hat, Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ und Lucas mit „Krieg der Sterne“ kühne Utopien vom Universum entworfen haben, waren „True Lies“ und „Die Maske“ 1994 auf der Höhe der Zeit Das Kino stirbt daran nicht – es ist zum Fortschritt verdammt. Wenn es künftig gelingt, die digitalen Dimensionen mit Inhalt zu füllen, ergeben sich ganz neue Möglichkeiten. Bei Neil Jordans „Interview mit einem Vampir“ floß das Blut bereits aus dem Rechner, und „Forrest Gump“ wäre anders nicht realisierbar gewesen. Ob diese Filme nun gut sind, man sie mag oder nicht, ist eine andere Geschichte. Die erzählt Mike Leigh in „Naked“.
„Naked“ hat nicht annährend so viel Geld eingespielt wie etwa „Forrest Gump“ – aber auch kaum etwas gekostet Denn er hat keinen doppelten Boden, dafür doppeldeutige Dialoge von lange nicht gehörter Intensität. Die Hauptfigur Johnny hat jene Apokalypse im Kopf, die Cameron nur mit millionenteuren Spezialeffekten umsetzen könnte.
Johnny ist ein Penner und Poet, Krimineller und Komiker, Fantast und Fatalist, Prediger und Pilger.
Ziellos und zynisch streift er durch Londons Straßen, unrasiert, ungewaschen, ein Schmerzensmann. Er philosophiert erhaben über Raum und Zeit, Nostradamus, die Evolution und Bibel und Chaostheorie. Sein Hirn ist ein Zerstörungsarsenal: jedes Wort eine Waffe, jedes Argument eine Attacke, jedes Gefühl ein Gemetzel. Von Johnny, dieser hageren Häßlichkeit, fühlt sich sogar eine Hure vergewaltigt. Doch Frauen wie das Junkiemädchen Sophie mögen ihn, seinen traurigen Blick, seine mephistophelische Zärtlichkeit.
Die Menschen entblößen Johnny ihre Dummheit, Hilflosigkeit und Langeweile – und sein Spott suhlt sich in ihrer Seele. Johnny verachtet alle, aber am meisten sich selbst. Er flüchtet vor der Liebe, vor dem Morgen, vor dem Ruhepunkt im Leben. Johnny ist in seiner Widerlichkeit der Anti-Held der 90er Jahre, der mit seinem Zorn einen sentimentalen Simpel wie „Forrest Gump“ zerfetzt. Und „Naked“ sagt mehr über das Leben, die Gesellschaft, die Zukunft und den Zustand der Welt als ein Generation X-Abklatsch wie „Reality Bites -Voll das Leben“, der Melancholie aus modischen Posen zieht. Über das Kino sagt „Naked“ natürlich nichts. Denn ab Regisseur treibt uns Mike Leigh jene Illusionen aus, die Cameron im Cyberspace-Kino suggeriert. Leigh und Johnny-Darsteller David Thewlis haben zu Recht die Goldene Palme von Cannes erhalten.
Die Briten haben die besten Filme 1994 gedreht. Mike Newell verblüffte mit seiner berückenden leichten Komödie „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, die den Sommer über deutsche Kinos verstopfte und den Sensibilisten Hugh Grant als neues europäisches Sex-Symbol etablierte. Stephen Frears überzeugte mit der Komödie „The Snapper“ um einen irischen Arbeiter, den die Schwangerschaft seiner Teenager-Tochter irritiert.
Ohne Leidenspathos schuf auch Ken Loach zwei Porträts des englischen Proletariats: „Raining Stones“ zeigte das Streben und stete Scheitern zweier Arbeitsloser, Macken und Menschen des Milieus, Kummer und Komik einer Klasse ohne Kreditkarten, aber mit unerschütterlichem katholischen Glauben. Kurz darauf kam „Ladybird, Ladybird“ ins Kino, das wahrhaftige Martyrium einer vom Mann geprügelten Mutter, der das Jugendamt wegen ihres vermeintlich asozialen Verhaltens alle Kinder wegnimmt.
Dagegen gelang James Ivory, dem akribischen Restaurator literarischer Chroniken, mit „Was vom Tage übrigblieb“ ein meisterhaftes Drama im Schloß eines Lords. Anthony Hopkins brillierte als Butler, der sein Leben als Dienen und heiligen Akt der Etikette begreift. Kein Gefühl, keine private Meinung oder Regung stören den korrekt ritualisierten Alltag. Mit minimaler, maskenhafter Mimik offenbarte Hopkins alle Züge einer Tragikomödie. Richard Attenborough und Alan Parker sollten glücklich sein, daß Hopkins ihren langatmigen Filmen „Shadowlands“ und „Willkommen in Wellville“ überhaupt beigewohnt hat „Die Sieger“ nannte Dominik Graf seinen am US-Actionfilm orientierten Krimi – aber von diesem Großversuch und Sönke Wortmanns Schwülen-Komödie „Der bewegte Mann“ abgesehen, sind deutsche Filmemacher wieder die Verlierer des Jahres. In „Burning Life“ durften zwei Frauen endlich eine Rolle wie „Thelma & Louise“ spielen, der Altmeister und Alkoholiker Harald Juhnke wirkte in der netten Komödie „Alles auf Anfang“ mit Das umständliche Drama über den Kauz „Kaspar Hauser“ wurde zum besten heimischen Film gewählt Verdient hätte diesen Titel Jan Schuttes „Auf Wiedersehen, Amerika“. Nur Deutschland hat nichts Besseres verdient Viel mehr bleibt auch von Hollywoods enormem Produktionsausstoß nicht übrig. Fortsetzungen wie „Wayne’s World 2“ und „Sister Act 2“, Klamauk wie „Machen wir’s wie Cowboys“ und „Mr. Bill“, Actionkrimis wie „Boiling Point“ mit Dennis Hopper und „Explosiv“ mit Tommy Lee Jones – alles Schrott auf hohem Standard. Von den Remakes „The Getaway“ mit dem Ehepaar Kim Basinger und Alec Baldwin, „Begegnungen“ mit Richard Gere und Darryl Hannah im „Angriff der 20-Meter-Frau“ war lediglich die Western-Komödie „Maverick“ erträglich.
Die erhoffte Wiederkehr des Western blieb mit „Tombstone“, „Geronimo“ und „Bad Girls“ kläglich auf der Strecke, darunter das Epos „Wyatt Earp“ mit Kevin Costner, dessen triviales Ethno-Melodram „Rapa Nui“ auch scheiterte. Monumentalfilme wie Bernardo Bertuluccis „Little Buddha“ und die französische „Bartholomäusnacht“ verharrten in ihrer Opulenz. Mit altmodischen Komödien wie J Love Trouble“, „Schlagzeilen“ und Blake Edwards‘ „Der Sohn des rosaroten Panthers“ suchten die Amerikaner Zuflucht in der Vergangenheit. Allein Woody Allen konnte es sich erlauben, mit „Manhattan Murder Mystery“ eine Krimi-Komödie zu inszenieren, die amüsant Filmklassiker und selbstironisch sein Schaffen als Stadtneurotikers zitiert Aliens pointierte Spitzfindigkeiten und kleiner Sarkasmus machten den harmlosen Plot zur spannenden Story, während die geschwätzigen Thriller „Die Akte“ und „Der Klient“ von John Grishams Romanvorlagen geknebelt wurden.
Amerika rechtfertigt seine omnipotente Existenz im Kino allerdings stets mit einigen makellosen Meisterwerken. Robert Altmans gesammelte Lebenslügen „Short Cuts“ waren großes Episoden- und Erzählkino. Die stillen Leiden von Johnny Depp als Provinzbursche „Gilbert Grape“ bleiben unvergeßlich. Hai Hartley bestach mit „Amateur“ ebenso wie „Hudsucker – Der große Sprung“ der Brüder Coen. Und „Speed“ erstaunte sogar Kritiker, die notorisch über das Action-Genre nörgeln. Die Handlung kommt über einen konventionellen Katastrophenfilm nicht hinaus. Doch Regisseur Jan De Bont, bei „Blade Runner“ und „Die Hard“ noch Kameramann, reduzierte die Lektionen des Action-Kinos endgültig auf bewegliche Bilder. „Speed“ hat keine wirkliche Story und also keinen Stillstand. De Bonts Bomben-Bus brettert gegen alle Naturgesetze sturr geradeaus und geradewegs ins Nervensystem der Zuschauer. Keine Endstation. Fortsetzung folgt Auch die Litanei über Brutalität in Kinofilmen wird nie enden. Im vergangenen Jahr mußte dafür Oliver Stones mediales Montage-Trauma „Natural Born Killers“ herhalten, was gemessen an der Borniertheit von Zensoren und Politikern sowie den offensichtlichen Gewaltakten im Film noch nachvollziehbar ist: Es wurden wieder die Leichen pro Minute gezählt Quentin Tarantino bringt es in „Pulp Fiction“ auf nur drei Tote, aber der Lakonismus von Samuel L. Jackson und John Travolta als Killer entsetzte nicht wenige. Die beiden sind die Marx Brothers unter den Profimördern. Sie machen ihren Job und tratschen dabei unentwegt über Banalitäten, Cheeseburger, Wunderglaube, europäische Kultur und die Erotik von Fußmassagen. Jackson zitiert gegenüber seinem Opfer einen biblischen Racheschwur, bevor er die Pistole zückt und das Magazin leerschießt. Und Tarantino resümierte alles, was er aufgeschnappt hat: Mellville und Peckinpah, nouvetle rague und film noir. Die Mythen des Gangster-Films und das Triviale aus Groschenheften, nach denen „Pulp Fiction“ benannt ist, adaptierte Tarantino mit Ironie und Klarsicht „Pulp Fiction“ ist Dialog-Kino. Über die Gewalt in „True Lies“ erregt sich niemand mehr. Sie verschwindet hinter den Täuschungen der Computer.