Nachruf: Trauer um Christoph Schlingensief
Wieder tritt ein ganz Großer ab: Am Samstag verstarb der deutsche Regisseur, Aktionskünstler und Opernrebell Christoph Schlingensief an der Krebserkrankung, die in den letzten zwei Jahren durch die Medien ging. Ein Nachruf von Joachim Hentschel.
Ein ganz frühes Super-8-Werk von Christoph Schlingensief muss es sein, mit rund einer Minute Dauer derart kurz, dass es in den offiziellen Filmografien nicht auftaucht, aber vom Münchener Werkstattkino manchmal im Vorprogramm gezeigt wird. Da sieht man ihn in einer bayerischen Wohngegend stehen, wohl in der Zeit Anfang der 80er-Jahre, als der Künstler in München diverse Geisteswissenschaften studierte. Die Sonne scheint, es liegt Schnee. Und der junge Schlingensief spielt auf der Trompete das Deutschlandlied. Ungelenk natürlich, bemüht prustend, kläglich schief. Aber eben nicht gehässig, nicht mutwillig und beifallheischend kaputt. Der bizarre Zapfenstreich strahlt trotz allem etwas Feierliches, Unbeugsames aus. Dieser Typ hat Hoffnung, auf was auch immer. So haben wir Christoph Schlingensief später kennengelernt: als einen, der zwar gewaltigen Spaß am Blödelprotest, an Schocktaktiken aller Art und an Provokation bis zum Staatsanwalt hatte, der bei alledem aber immer sonderbar empfindsam und aufrichtig blieb. Einer, der sich nie für seine naiven Ideale und die katholische Erziehung schämte, sich nie hinter dem Brustpanzer des Hochkulturellen versteckte, obwohl man ihn an die Volksbühne ließ, nach Cannes und in die Tempel von Bayreuth. Ein Punk mit Hippie-Gen, der nicht mal entfernt etwas dagegen hatte, dass das Publikum ihn ordentlich liebte. Wir gaben Szenenapplaus, als das soziokulturelle Zentrum zum außerordentlichen Screening von „Die 120 Tage von Bottrop“ lud, in dem Schlingensief Udo Kier, Helmut Berger und die Russ-Meyer-Schauspielerin Kitten Natividad vor der Handkamera vorbeijagte und den gesamten deutschen Film veräppelte. Wir besorgten uns „Das deutsche Kettensägenmassaker“ auf Video und sahen die Wiedervereinigung mit anderen Augen: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst“. 1997 verpassten wir keine Folge von „Talk 2000“, Schlingensiefs Show aus der Volksbühnenkantine, die einzige Talkshow, bei der überhaupt irgendwas passierte: Ingrid Steeger wurde liebenswürdig genötigt, Schlingensiefs Sidekick Achim „Heiner Müller“ zu interviewen, Hilde Knef sollte vor laufender Kamera eine Minute schlafen, Harald Schmidt schüchterte den Hobby-Moderatoren mit seinem professionellen Plauderschwall derart ein, dass er sich heulend in die Garderobe flüchtete. Auf MTV lief drei Jahre später die Nachfolgereihe „U-3000“, die in einer fahrenden Berliner U-Bahn aufgezeichnet wurde, mit Teufelsaustreibung, Farbattentaten und dem Off-Künstler Klaus Beyer in der Rolle des Hanns Martin Schleyer. Dass Schlingensief es war, der die Grenzen der deutschen Talk- und Aktionsshow damals so weit aufbrach, dass nach ihm auch der besagte Harald Schmidt, Kurt Krömer und allerhand andere Profichaoten durchpassten, soll ihm als Verdienst angerechnet werden. Viel wichtiger ist jedoch die Haltung, mit der er hier auftrat: Hinter jedem Mumpitz steckte der wache Blick des Sinn- und Erkenntnissuchenden, der jeden Zynismus verachtete und lieber mal kurz die Welt verbessern wollte. Unzählige Schlingensief-Aktionen wurden legendär und aktenkundig: der „Tötet Helmut Kohl“-Eklat auf der Documenta, die Fahnenverbrennung vor Möllemanns Büro, der Wahlkampf mit „Chance 2000“ und die Sache mit den Arbeitslosen, die den Wolfgangsee zum Überlaufen bringen sollten. Einige wurden vergessen, zum Beispiel die Reise nach New York 1999, auf der er im Kostüm des orthodoxen Juden „Don’t Buy German Goods“ forderte und symbolische eine Urne mit der Asche Deutschlands im Hafen versenkte. Man musste längst nicht alles gut finden, was er machte – man konnte auch nur einfach so seinen Mut bewundern, seine Konsequenz, seinen Einfallsreichtum und die Präzision, mit der bei allem dilettantischen Charme die tausend Projekte realisierte und promotete. Die Anfang 2008 festgestellte Krebserkrankung brachte ihm dann noch eine ganz neue Art von Öffentlichkeit. Wie der kranke Schlingensief sich mit Performances, Tagebuch und Interviews um das allgemeine Mitgefühl herum selbst inszenierte, das gehört zu den ergreifendsten Einblicken in die verwirrte, zerstörte Innenwelt eines Künstlers, die man je gesehen hat. „Ich finde inzwischen diese künstlerische Todessehnsucht, die ich selbst mal hatte, lächerlich“, sagte er erst vor wenigen Wochen in einem Gespräch mit „GQ“. „Ich will leben. Ich habe den Wunsch, leben zu wollen, erst spüren müssen.“ Das sind großartige vorletzte Worte. Der Kunst des Christoph Schlingensief hat man diesen Wunsch allerdings ein Leben lang angemerkt. Joachim Hentschel