BEI DEN STONES VOR DER BÜHNE
E s herrschte ausnahmezustand. Wie überall, wo die Stones 1965 auftraten, zeigte die Staatsmacht ihre Zähne. Berittene Hundertschaften und Wasserwerfer gehörten zur Standard-Abschreckungskulisse, ihr Einsatz trug für gewöhnlich allerdings eher dazu bei, den Druck im Kessel zu erhöhen. In der Berliner Waldbühne im September flog dann der Deckel weg, aufgestaute Wut entlud sich, und als Folge der „Krawallnacht“, wie die lokale Presse titelte, ging einiges zu Bruch, nicht zuletzt die Waldbühne selbst. Erst Jahre danach konnten dort wieder Konzerte stattfinden, auch die Stones nutzten die Freilichtbühne seither noch mehrmals. Mit einem Zeugenbericht kann ich nicht dienen, mein erster Berliner Stones-Gig fand erst acht Jahre später statt, an anderer Stelle, nicht halb so geschichtsträchtig, indes nicht weniger aufregend.
Eigentlich gehörten die Hells Angels nicht zu dem Personenkreis, dessen Nähe ich je gesucht hätte. Im Gegenteil, normalerweise machte ich einen großen Bogen um die allzeit Gewaltbereiten, belächelte sie für ihr spätpubertäres Motorradgebrumm und die anderen hirnlosen Insignien von Männlichkeitskult und Stammesdünkel. Für mich waren diese vereinsmeiernden Biker bloß ausgewachsene, stiernackige Exemplare einer Spezies, die mir aus meiner Schulzeit in ausgesprochen unguter Erinnerung blieb: Gleichaltrige, die unentwegt an ihren Mopeds herumbastelten und darauf mit befremdlichem Stolz einherknatterten, anstatt sich den wirklich aufregenden Dingen des Lebens zu widmen, wie Musik und Mädchen. Nein, ehrfurchtgebietend waren die Hells Angels nicht, nur furchteinflößend.
Daran änderte sich Ende Oktober 1973 zwar prinzipiell nichts, doch sollte ich der weltweit Schrecken verbreitenden Rocker-Gang in den folgenden Jahren des Öfteren zu großem Dank verpflichtet sein. Ort des augenöffnenden Erstkontakts war die Deutschlandhalle im Berliner Westend, ein inzwischen längst abgerissener Mehrzweckkasten mit mieser Akustik, der immerhin 10.000 Besuchern Platz bot. Zu wenig für die Stones, deren Abschluss-Konzert einer zweimonatigen Europa-Tournee natürlich Garant für ein proppenvolles Haus war. Wollte man den Gig ganz vorn an der Bühne genießen, hatte man sich also etliche Stunden vor Konzertbeginn einzufinden. Was ich, in Stones-Erlebnisoptimierungs-Strategien erprobt, natürlich tat. Ans Gitter der Bühnenabsperrung gedrückt, durchgeschwitzt, aber glücklich ließ ich meinen Blick nach hinten schweifen, erfüllt von jener Körper und Seele durchflutenden Vorfreude, die sich verlässlich einzustellen pflegt, wenn eine Stones-Show unmittelbar bevorsteht.
In die freudige Erwartung mischte sich auch ein wenig Mitleid für die schlechter Positionierten auf den hinteren Rängen. Dicht an dicht drängten sich die Fans im Innenraum, ein Durchkommen schien unmöglich. Und doch teilte sich die Menge plötzlich wie auf Moses‘ Geheiß das Rote Meer, und durch die Gasse schritten ein paar Hells Angels. Sieben oder acht mögen es gewesen sein, die sich in Bühnennähe postierten. Es brauchte keine sichtbare Gewalt, nicht einmal Drohgebärden, um den Durchmarsch zu bewerkstelligen. Niemand protestierte, keiner riskierte eine Lippe, hinter dem letzten Höllenengel schloss sich die Menschenmasse, floss zusammen wie das Wasser im alttestamentarischen Märchen nach dem Durchzug der Israeliten.
Ein Bild, das sich mir dauerhaft einprägte. Während des Konzerts fielen mir die nur wenige Meter entfernt stehenden Rocker bloß unangenehm auf, etwa wenn sie sich über Billy Prestons Afro lustig machten oder seine Körpersprache höhnisch nachäfften. Hätten sie Bananen zur Hand gehabt, wären die auf Prestons Keyboard hinabgeregnet, so viel scheint sicher. Der Stones-Auftritt indes muss den Bikern imponiert haben, denn nach der Show verlangten sie noch grölend Zugaben, als sich das übrige Publikum schon damit abgefunden hatte, dass es keine geben würde. Man strebte euphorisiert den Ausgängen zu, allerdings unter Beachtung eines etwas übertriebenen Sicherheitsabstandes zum Rockertross, der das merklich genoss.
Das Verhältnis zwischen den Rolling Stones und den Hells Angels ist bekanntermaßen ein äußerst prekäres, zwischen Respekt und Hass pendelndes. Ob die Angels als Ordnungsmacht im Hyde Park gute Dienste leisteten oder im Chaos von Altamont brutal durchgriffen: Nie wurde transparent, wie diese Connection zustande kam und wer dabei am längeren Hebel saß. Wäre das Entsetzen in Mick Jaggers Gesicht gespielt gewesen, als ihm die Film-Dokumentation von Meredith Hunters Ermordung gezeigt wurde, müsste er über ein Schauspieltalent ohnegleichen verfügen. In Wahrheit ist das aber eher begrenzt, wie man nicht erst seit „Freejack“ weiß. Und man denke an den verächtlichen, ja gehässigen Blick, mit dem einer der Angels den Sänger mustert, als der vergebens versucht, von der Altamont-Bühne herunter Besonnenheit und Friedfertigkeit anzumahnen. Der Prozess endete mit einem Freispruch, da das Gericht auf Notwehr erkannte. Die Tat blieb also ungesühnt, die verhängnisvolle Zweckgemeinschaft zwischen den Stones und der Motorrad-Gang wurde nie coram publico für beendet erklärt.
Seither ergingen verschiedentlich Morddrohungen gegen die Stones, ein gegen Jagger gerichtetes Mordkomplott, dessen Drahtzieher in der Club-Hierarchie weit oben stand, flog gerade noch rechtzeitig auf. Genaueres weiß wohl niemand, jedenfalls keiner, der so lebensmüde wäre, sein Wissen kundzutun. Man könnte allenfalls Bob Dylan fragen, der mittels Transfiguration die Nachfolge eines tödlich verunglückten hochrangigen Engels angetreten hat, sofern ich seine ominösen Einlassungen zu diesem Thema ansatzweise verstanden habe. Die geistige Gesundheit des Dichterfürsten steht jedoch auf einem anderen Blatt, begeben wir uns lieber zurück ins Jahr 1973 und halten fest, was mich das Erlebte gelehrt hatte. Zum einen, das war mir bereits bei diversen früheren Gelegenheiten aufgefallen, entsenden die Hells Angels habituell Abordnungen zu Stones-Gigs nicht nur zum Vergnügen, sondern auch zum „Bonding“, was sich frei mit „Schulterschluss“ übersetzen ließe. Zum anderen kommen die Angels auf den letzten Drücker, schaffen es aber mühelos auf die besten Plätze. Da müsste sich doch etwas deichseln lassen, falls es mal eng werden sollte.
Und so kam es. Noch nicht bei meinem nächsten Konzert drei Jahre später an gleicher Stelle, auch die folgenden in Londons Earls Court Arena waren dank wertvoller Verbindungen zu lokalen Platzhirschen vergleichsweise luxuriös geregelt. Aber dann gelang es mir tatsächlich, vom Ruf der Hells Angels zu profitieren. Der war ihnen auch nach Den Haag vorausgeeilt, in den Zuiderpark. Aus London kommend, war ich erst spät eingetroffen. Vor dem Stadion gab es die üblichen Tumulte, weil sich ein paar hundert Fans ohne Ticket nicht mit ihrer bedauerlichen Lage anfreunden wollten. Es war Mai, die Tournee 1976 schon einige Wochen alt, das neue Songmaterial inzwischen eingeritten. „Hand Of Fate“, anfangs noch allzu rumpelig, war in London zum Tour-Highlight avanciert, „Fool To Cry“ hatte eine wärmende Balance gefunden zwischen Melodieseligkeit und Melodrama, „Hot Stuff“ war ebendas. Die Stones waren dabei, einmal mehr zu Hochform aufzulaufen, aber es sah so aus, als müsste ich die Feier durch ein Fernrohr verfolgen, das mir zu allem Überfluss fehlte.
Meine Stimmung besserte sich, als ich einiger Hells Angels gewahr wurde, die plaudernd um ihre geparkten Feuerstühle herumstanden und noch keine Anstalten machten, sich zum Stadioneingang zu begeben. Erst eine Viertelstunde vor Showtime, das Vorprogramm lief längst, setzte sich die Gruppe langsam in Bewegung, zeigte am Einlass brav die Tickets und pflügte dann ohne Hast durchs Publikum, im Schlepptau Yours truly. Mein Glück war, dass der letzte Rocker in der Phalanx sich nicht umdrehte, mein dreistes Manöver also nicht bemerkte. Immerhin musste ich mich direkt hinter ihm halten, wollte ich nicht von erbosten Fans ausgebremst werden, die sich ihren Platz in Bühnennähe redlich erstritten hatten. Kurzum: Es klappte.
Und nicht zum letzten Mal. Es war sechs Jahre später, im Sommer 1982, seltsamerweise wieder in den Niederlanden, genauer: in Rotterdam, als mir abermals eine Delegation der Hells Angels unwillentlich und unwissentlich zu Hilfe kam. Ein recht phlegmatischer Haufen indes, leider. Die Stones hatten im Feyenoord-Stadion schon ihren dritten Song angestimmt, „Black Limousine“, wenn ich mich recht entsinne, als ich Anschluss an die Kolonne fand und mich in ihrem Sog nach ganz vorn mitziehen ließ. Eine probate Methode, die freilich nicht immer funktionierte. In Amerika traf man bei Stones-Shows zwar auch organisierte Biker an, die traten aber unorganisiert auf.
Dort brauchte es eine andere Art von Bullshitting: den Bluff. Als ich mit einem Freund anlässlich des US-Tourstarts 1997 in Chicago auf die Pressetribüne verbannt werden sollte, hinter Glas, hundert Meter entfernt von der Bühne, be-
schwerten wir uns bei den Ordnern des natürlich ausverkauften Soldier-Field-Stadions. Das Stones-Büro hätte uns einen Sitzplatz nahe am Geschehen zugesichert, sonst hätten wir ja wohl den weiten Weg aus Germany nicht auf uns genommen. Binnen weniger Minuten war die Kunde von den beiden bitter enttäuschten Deutschen, die sich auch noch getäuscht fühlten, per Walkie-Talkie bis zum Hauptverantwortlichen durchgedrungen, der sich persönlich einschaltete. Wir seien Gäste der Rolling Stones, hieß er uns willkommen und wies uns bessere Plätze zu. Meinen nahm ich dann nicht einmal in Anspruch, fand in der für die Chess Studios reservierten Sektion einen freien Stuhl. Dass auch der unbenutzt blieb, lag daran, dass eh alle aufsprangen, als die Stones loslegten.
Sich ohne entsprechende Autorisation zu den Künstlern durchzumogeln ist heute kaum noch möglich. Die vielfach gestaffelten Kontrollen durch professionelles Security-Personal stellen schier unüberwindbare Hindernisse dar. Wer nicht im Besitz eines Triple-A-Backstage-Passes ist, bleibt früher oder später unweigerlich im Sicherheitsnetz hängen.
Das war einmal ganz anders. Dem livrierten Pförtner am Bühneneingang der Stuttgarter Liederhalle konnten wir eines schönen Nachmittags vor rund 46 Jahren problemlos weismachen, dass wir zur Band gehörten. Er beschrieb uns sogar den Weg zur Garderobe von Jimi Hendrix, wo wir bis zum abendlichen Auftritt völlig unbehelligt abhingen. Im Jahr davor hatten wir beim Kinks-Konzert auf dem Killesberg die besten Plätze in der Halle erschwindelt, erste Reihe Mitte, indem wir schon beim Soundcheck Zettel auf die Stühle klebten, die wir eilig mit „Management Kinks“ und „Management Creation“ bekritzelt hatten. Dass diese „Reservierungen“ von den Tausenden vor uns in die Halle stürmenden Konzertbesuchern respektiert werden könnten, hatten wir nicht einmal zu träumen gewagt. Und so konnten wir unser Glück kaum fassen, als wir in der voll besetzten Halle auf den beiden freien Stühlen Platz nahmen, während den umsitzenden, durchweg älteren Fans dämmerte, dass diese Siebzehnjährigen wohl kaum Manager sein konnten.
Nikki Sudden, dem ich über die Jahre bei etlichen Stones-Gigs über den Weg lief und dem ich die eine oder andere unverhoffte Einladung ins inner sanctum des Backstage-Bereichs verdanke, wusste ähnliche Geschichten zu erzählen. Trotz seiner Freundschaft mit Ron Wood und den sich daraus ergebenden Privilegien war auch Nikki davon überzeugt, dass die zunehmende Undurchlässigkeit der Grenze zwischen Künstler und Publikum jenen Rapport vollends zu ersticken drohte, von dem Rock’n’Roll einst angetrieben worden war.
Als Keith Richards vor knapp 50 Jahren gefragt wurde, wie lange der Erfolg der Stones denn wohl noch andauern würde, antwortete er: Zwei Jahre, da sei er optimistisch. Nun kommen die Rolling Stones im 53. Jahr ihres Bestehens als Rock’n’Roll-Institution erneut in die binnen Minuten ausverkaufte Berliner Waldbühne. Mit Krawallen ist nicht zu rechnen, mit den Hells Angels auch nicht. Doch einmal mehr werden die Rolling Stones emphatisch einlösen, was der Tournee-Titel verspricht: „14 On Fire“. Wohl dem, der ein Ticket ergattern konnte.