Ehrfürchtig an Lennons Flügel
Gerade mal zwei jahre ist es her, dass Sharon Van Etten „Tramp“ veröffentlichte, eine Sammlung elegischer Lieder, die sie aus der Masse der New Yorker Songwriter heraus-und in einige Bestenlisten hineinkatapultierte. Heute sagt sie mit dem Anflug eines ironischen Lächelns: „Ich war so naiv damals.“ Denn damals wirkte sie schüchtern, ja krampf haft introvertiert. Heute betet sie, aufgeräumt und routiniert, den kompletten Aufnahmeprozess ihres neuen Albums, „Are We There“, herunter. Zusammengefasst: Sharon Van Etten ist mittlerweile ein Profi. „Klar, eine Zeitlang habe ich mich gefragt, was mit mir passiert. Warum wird aus den Dingen, die ich ursprünglich für mich gemacht habe, plötzlich ein Produkt für andere? Aber das ist jetzt mein Job. Manchmal fühle ich mich wie Spider-Man: Ich hoffe, mit meiner Kraft Menschen helfen zu können – und sie andererseits nicht mit derselben Kraft zu verletzen.“
Verschwunden sind die Selbstzweifel von „Tramp“, die Van Etten bis an ihre gesundheitlichen Grenzen trieben -und sie schon das Schlimmste fürchtete. „Ich missbrauchte meine Stimme so stark, dass ich dachte, ich hätte Krebs, weil mein ganzer Hals geschwollen war.“ Eine Ärztin gab Entwarnung und verordnete: eine Woche Sprechund Singverbot. „Ich kam danach als neuer Mensch zurück“, sagt Van Etten. Daraus gelernt hat sie ein paar Wahrheiten, die im Vorspann jeder guten Pop-Tragödie angebracht wären. Zum Beispiel: „Bei meiner Art von Musik sollte man sich nicht vormachen, dass es kein intensives Unterfangen ist.“
„Are We There“ ist nun wiederum eine sehr intensive Erfahrung. Doch während der Reiz von „Tramp“ in Van Ettens Zerbrechlichkeit lag, strotzen die neuen Songs regelrecht vor Selbstbewusstsein, weil sich diese Künstlerin ihrer Verwundbarkeit nicht mehr schämt, sondern sie nutzt, auch mal ins Gegenteil verkehrt, in Wut und Trotz. Diese Wandlung lässt sich schon an den Songtiteln ablesen. „Afraid Of Nothing“ heißt einer. „Das ist mein Appell an die Menschen, die ich mit meiner Musik erreiche: Öffnet euch! Seid verletzlich“, erklärt sie.
Zu den wichtigsten Faktoren im Leben von Sharon Van Etten zählt inzwischen auch ihre Band, mit der sie „Are We There“ eingespielt hat und in den vergangenen Jahren viel auf Tour war, die sie ins Zentrum stellt und sie zugleich schützt. „Durch meine Musiker habe ich mich besser kennengelernt“, verkündet sie stolz. Und natürlich gebühre ein großes Verdienst am intimen, rohen Klang von „Are We There“ ihrem Produzenten Stewart Lerman, den sie bei der Arbeit am „Boardwalk Empire“-Soundtrack kennenlernte. Lerman und Van Etten machten es sich in den Hobo Sound Studios in New Jersey gemütlich und entdeckten in einer benachbarten Lagerhalle für Bühnentechnik rein zufällig den Flügel, auf dem John Lennon einst „Imagine“ spielte. „Er klingt dunkler und tiefer und emotionaler als die anderen Pianos, die wir verwendet haben“, sagt Van Etten, die sich anfangs kaum traute, die Klaviatur zu berühren, aus Ehrfurcht vor dem mythischen Instrument.
Dunkler, tiefer, emotionaler: So könnte man auch „Are We There“ beschreiben, auf dem Van Etten ihre dramatisch gestreckten, frei schwebenden Harmonien perfektioniert. Nur ihrer Mutter bereitet diese Entwicklung noch Sorge: „Sie fragt mich hin und wieder:’Wann wirst du endlich einen fröhlichen Song schreiben?‘ Aber darin bin ich nun mal nicht gut.“ Oder, wie sie im letzten Stück des neuen Albums singt: „Every time the sun comes up, I’m in trouble.“