Sehr anfällig für Anfälle
Statt in den Wald ging Sarah Slean dieses Mal lieber nach Paris, um kreativ zu sein.
Als Sarah Slean das letzte Mal eine neue CD veröffentlichte, kam sie gerade aus dem Wald. In einer Holzhütte irgendwo jenseits von Toronto hatte sie sich versteckt, um „Day One“ hervorzubringen, ein mit Cabaret und Vaudeville durchsetztes Pop-Album. Slean hat turnusmäßig eine Art Anfall: Wenn es Zeit ist für neue Lieder, kommt es zuerst zu Blockaden, dann zu schrecklicher Unzufriedenheit und dann zu einer Flucht.
„Es ist wie ein Sterbeprozess“, erklärt sie. „Ich kämpfe mich an mir selbst ab, bis ich völlig ruhelos und enttäuscht von meiner eigenen Unfähigkeit bin. Dann, wenn ich erschöpft bin, tue ich etwas Drastisches – und finde mich irgendwo wieder, wo ich alles loslassen kann. Irgendwie muss ich mit meinem Geist an einen Ort, an dem sich dieses unschuldige, intuitive Wissen einstellt – eben der Zustand, aus dem Kunst entsteht.“
Für ihr neues Werk, „The Baroness“, ist Slean nicht in den Wald gegangen, sondern nach Paris. Paris, die Stadt der zufälligen Begegnung und der wild flatternden Gefühle. Aus drei Monaten Aufenthalt in einem Mini-Apartment wurden sechs, dann waren die Songs geschrieben.
Slean sagt: „Es war aufregend und wunderschön, aber auch anstrengend. Ich möchte das für das nächste Album unbedingt ändern – dass meine Musik immer aus diesen Anfällen und Fluchtversuchen entstehen muss. Ich habe sogar eine Therapie deswegen angefangen. Es muss doch möglich sein, Musik aus Freude entstehen zu lassen, nicht aus dem Ringkampf mit unserer Vorstellung eines eingekerkerten Selbst.“
Man kann mit Sarah Slean toll reden über die Kunst und ihre Paradigmen, über Sartre und Tolstoj und die Existenzialisten und das Ewige an sich. Wo fängt der Himmel an? Slean würde es gern wissen. Und hat deshalb bislang nicht nur sechs, sieben Platten gemacht, sondern auch jede Menge Gemälde gemalt, in obskuren Kurzfilmen mitgespielt und künstlerisch fotografiert.
„Malen ist das Gegenteil von Musik“, sagt Slean, „es geht dort nur um Raum – nicht wie bei der Musik, bei der es um Zeit geht. Es geht nur um deine Augen – nicht um deine Ohren und Physis.“ Richtig, die Physis. Auf ihrem letzten Album hatte Slean erstmals großen Wert auf Rhythmus gelegt, und auch auf „The Baroness“ spielt eine ordentliche Band. Die Musik ist melodramatisch bis bekennerisch. Slean dehnt das Pop-Genre, fingert im Sakralen und steht mit offenen Armen vor dem großen Fragezeichen. Wobei die Lyrik diesmal sehr direkt wirkt, gar keine Erklärung braucht.
„Ich will destillieren. Das wollen wir doch alle, wenn wir älter werden. Das Überflüssige loswerden, jedes Element auf den Kern reduzieren“, sagt Slean. Bei der nächsten Platte, die mit etwas Glück nicht in irgendeinem Exil entstehen muss, wird es wohl wieder vorbei sein mit den Trommeln.
Slean fühlt sich beengt, will freier musizieren und mit den Zutaten spielen. „Am Glücklichsten bin ich im Moment, wenn ich Streicher arrangieren kann“, schwärmt sie. So ist das: Wer tief eintaucht in sein Metier, wird irgendwann die Grenzen sprengen.