WM-Blog: Am Tag danach
Magische zehn Minuten und die Sprache eines klaren Ergebnisses: Deutschland muss wohl Weltmeister werden - WM-Blog, Folge 21
Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.
Am Tag danach
„Glaube niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes. Dann wird er Drachen töten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken – und Wotans Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können!“
Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, 1872
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Tja waren jetzt die Brasilianer so schlecht oder die Deutschen so gut, oder beides? Jedenfalls war das Halbfinal-Spiel irreal und von den ersten zwanzig und den magischen zehn Minuten, die folgten, abgesehen nicht wirklich schön anzusehen, scheint mir.
Was ist da passiert?
Dass Neymar gefehlt hat, ok, dass Silva gesperrt war, nun gut. Genügt nicht als Erklärung. Eher schon: Brasilien war nie so gut. Die Vorrundengegner schwach, im Spiel gegen Chile sind sie fast gescheitert. Was bleibt ist der anständige, wenn auch wieder vom Schiedsrichter begünstigte Sieg gegen Kolumbien.
Dazu kam der Druck. Rivaldo im ZDF stellte nicht nur fest: „2002 – das war einfach eine bessere Mannschaft“, sondern auch, dass die Spieler dem Druck von außen kaum noch Herr werden würden.
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Brasilien war nach Spaniens und Italiens Ausscheiden in der Vorrunde der einzige im Turnier verbliebene Angstgegner, die erste echte Prüfung für die deutsche Mannschaft. Und ganz zu Beginn in den ersten drei, besser sechs Minuten erinnerte man sich an das EM-Halbfinale gegen Italien: Brasilien war viel aggressiver und offensiver, als erwartet. Überfallartig kamen sie vors deutsche Tor, und man hätte es im Nachhinein gern gesehen, wie die Deutschen reagiert hätten nach Rückstand. Ein 1-0 wäre möglich gewesen.
Bis zur 10. Minute war es ein sehr gutes, rasantes, hin und her wogendes, ausgeglichenes Spiel. Dann aber… …der Schock und dann der Zusammenbruch der Brasilianer.
Diese Rede vom Angstgegner ist keineswegs nur „retrospektive Verzerrung“, wie Oliver Kahn das nennt. Denn gemeint sind psychologische Faktoren, die aus der Vergangenheit für die Gegenwart erwachsen.
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Die Holländer werden jedenfalls harte Arbeit haben, wenn sie dagegen gewinnen wollen, und schon heute Abend, wenn sie Argentinien besiegen möchten. Mich würde es ja freuen, würde Holland Weltmeister, so wie ich es auch Argentinien mehr gönnen würde, als ausgerechnet dieser deutschen Mannschaft, die schlechter spielt, als jede Auswahl seit 2006 inklusive: Defensive über alles, vorne nur Dino-Klose, im Mittelfeld ein Fußball ohne Inspiration, ohne echte Kraft, die dem Gegner ein Spiel aufzwingt (und damit auch scheitern kann), sondern reaktiv. „Was wollnse“-Fußball. Mertesacker-Fußball. Keiner in meinem Bekanntenkreis ist mit diesem Spiel wirklich glücklich, selbst die schon wieder zum Schlandfantum übergelaufen sind. Man akzeptiert die Resultate und den Erfolg, und da wir in einer Gesellschaft und einer Zeit leben, der der Erfolg mehr gilt, als die Schönheit, repräsentiert das DFB-Team unser Land recht treffend.
Trotzdem: Die Nationalmannschaft ist nichts außer erfolgreich. Ihr Spiel ist kein Stil mit Zukunft, es ist nicht grundsätzlich mitreißend. Es ist in seinen besten Augenblicken so wie die zehn Minuten zwischen der 20. und der 30 gegen Brasilien. In seinen schlechtesten allerdings wie das Match gegen Algerien.
2010 spielte das Team einen schöneren, aber auch verletzlicheren Fußball. 2012 ist dieses Modell keineswegs gescheitert, allerdings hat Löw da schon vor dem Halbfinale gegen Italien mutloser agiert. Und von diesem Italien-Schock hat sich der Bundestrainer nicht erholt . Sachlich, pragmatisch, italienisch spielt das deutsche Team seitdem. Auf Ergebnisverwaltung und Spielkontrolle angelegt. Schön is was anderes.
Aber so wird man anscheinend Weltmeister, und darum werden es die Deutschen werden …
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Olli Kahn redete vor dem Spiel immer von einem deutschen 4-3-3 System. Das ist mir bisher entgangen. Was ich gesehen habe, war zuletzt ein 4-5-1 mit Klose als Solosturm. Davor ein 4-6-0. Die Kombination Podolski-Müller ohne Klose war interessant und eigentlich vielversprechender.
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Was erzählte uns die WM in der vergangenen Woche? Vier mal Europa, viermal Lateinamerika trafen sich im Viertelfinale. Und der europäische Fußball bei dieser WM ist, wenn man es politisch oder kulturell lesen will, erstmals seit sehr sehr langer Zeit reduziert auf „Kerneuropa“, auf das Reich Karls des Großen: Frankreich, Deutschland, Niederlande und Belgien – die einstigen Spanischen Niederlande. So haben die Belgier auch gespielt: Viele Chancen, andauernde Offensive, aber wenig Tore. Noch dazu in rotgelben Trikots, also fast spanisch auch hier.
Auch ein neohabsburgisches „Reich in dem die Sonne nie untergeht“ kann man in den Nationen, die das Viertelfinale erreicht haben entdecken: Die reichen Küsten Costa Ricas, dass Eldorado-Land Kolumbien, das nach dem Entdecker der Neuen Welt benannt ist. Dann die ehemaligen Vizekönigreiche Argentinien und Brasilien: Kolonialparadiese für Zuckerrohr-, Kautschuk-, Salpeter- und Öl. Als die alte Welt jetzt gegen die neue gespielt hat, gab es das Aus für die Kleinen, das Weiterkommen für die Etablierten, Großen auf beiden Seiten des Atlantik. Und nun stellt sich im Halbfinale das Klima doch nicht als einfacher und besser für die Latinos heraus.
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Die WM war spielerisch eher ein Rückschlag. Immerhin praktizierten die Mannschaften Offensiv-Fußball. Aber in der KO-Runde dominierte wieder schrecklichstes Defensiv-Gekicke. Zu dem einem nichts einfällt, als die Tore an jeder Seite zehn bis zwanzig Zentimeter breiter und nach oben höher zu machen, damit Offensive mehr belohnt wird. Seit Einführung der Tormaße ist ja auch die durchschnittliche Körpergröße ernährungsbedingt gestiegen.
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Wenn es gar keinen anderen Grund gäbe, am Sonntag Argentinien oder Holland die Daumen zu drücken: Diese schrecklichen Trikots. Wollen wir wirklich, dass Deutschland jetzt auf Jahre hinaus entweder ganz in Weiß oder mit rotschwarzen Querstreifen spielt? Wahrscheinlich wollen „wir“ das. Ich will es nicht.