Southside Festival 2014, der Sonntag: Nackt auf den Schultern von Kraftklub
Chvrches verwandelt die Bühne in eine Großraumdisco, die Pixies verlieren den Verstand, Interpol spielen einen Trauermarsch und Lily Allen basht Kanye West.
Samstagnachmittag. Die Sonne scheint noch heftiger als gestern auf das Gelände. Im Gleichschritt marschiert eine enorme Masse Southside-Besucher gen Aufttritt von Bastille. Die Blicke sind leer, Schultern hängen herab. Vielleicht ist das aber auch der Statisten-Cast für die fünfte Staffel von „The Walking Dead“. Wer ihnen auf dem Weg zu den Radiowunderknaben in die Quere kommt, wird gnadenlos umgemäht. Wer noch nicht bereit ist zu stehen, liegt am frühen Abend neben der Blue Stage in der Sonne und frönt seinem Kater. Ein Mann hat seine neonorange Warnweste mit der Aufschrift „Härtester Trinker des Vorabends“ versehen. Er trägt eine Halskrause. Eines ist sicher: Die sengende Hitze bei Tag und die eisige Kälte bei Nacht gingen an niemandem spurlos vorbei.
Chvrches haben sich vorsorglich einen Ventilator auf die Bühne der White Stage stellen lassen, um dort nicht bei ihrer Goth-Elektropop-Anbetung zu krepieren. Abgekühlt singt Lauren Mayberry mit ihrem schönen Schwanengesang gegen die Synths ihrer Band an. Der Ventilator bläst ihr durch die Mia-Wallace-Frisur und trägt den Song „Recover“ in das Zeltinnere. Dort sitzen manche mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Bei drei Mädchen verteilte der Schweiß Glitzer über ihre automatisiert-schaukelnden Körper. Ihre Mimik ist leer. Genauso gut könnte sich diese Szene in den frühen Morgenstunden des Berliner Betonschuppens Berghain abspielen.
Von der Blue Stage hallen die Zeilen „Hey/ been trying to meet you“. Die Stimme von Black Francis knarzt bei dem Song genauso schaurig, wie Zeltstangen, die sich vor Hitze verbiegen. Schön ist das, leider schlafen viele bei dem Auftritt der Pixies noch. Erst als das Intro zu „Where Is My Mind“ angespielt wird, erwachen die Menschen aus ihrem Delirium. Es ist bezeichnend für Pixies, dass sie in alle Ewigkeit hinter dem der berühmten Szene aus „Fight Club“ zurückstehen müssen.
Könnten die maßgeschneiderten, schwarzen Anzüge bei Interpol und Paul Banks geschleckten Haare noch als verschroben durchgehen, mutet der Dark-Wave-Entwurf in dieser Kombination wie das Geleit zu einer Beerdigung an. Ein paar Strohhutträger feiern den Song „Evil“ ab, wie ihren letzten Kindergeburtstag. Manche Bands sind für den privaten Konzertrahmen um Längen besser geeignet.
Am Abend werden Bad Religion auf der Red Stage des Festivals unterverkauft. Immerhin haben sie einst dem West-Coast-Punk die Melodie eingebläut. Um an alte Zeiten zu erinnern, reißt Greg Graffin „21st Century (Digital Boy)“ an. Der Song ist mindestens so alt wie das ausgeblichene Shirt, das er trägt. Auf dem Weg zu Kraftklub spült der Titel ein paar Neugierige ins Zelt. Das ist ebenso skurril wie die Geschichte über Corn Dogs und Bungee Jumping, die Graffin in einer Songpause erzählt. Graffin stört das nicht. Er heißt die Neuen willkommen zu ihrem „first concert of Bad Religion“ und weist sie in den Song „Los Angeles Is Burning“ ein.
Wären die weitergegangen, sie hätten bei Kraftklub ein Mädchen auf den Schultern eines Freundes erlebt, das seine Brüste in die Kamera streckt. Tape verdeckte die pikantesten Stellen. Ob das sexuelle Belästigung von Felix Brummer ist, fragt man sich da. Falls dem so sei, wird sich das Mädchen ihre Strafe selber erteilen: Wenn sie sich das Panzertape von ihren Nippeln reißen muss.
Zurück an der Blue Stage hat Lily Allen mittlerweile die Schlafenden aufgeweckt. Viele von ihnen werden sich nicht sicher sein, ob sie nicht noch träumen, als sie das quietschfidele Bühnenbild erblicken: Babyflaschen ragen aus dem Bühnenboden empor, die Sängerin selbst ist in einen grauen Glitzerhoody und einem neonoragenen Bleistiftrock gezwängt. Ihre regenbogenfarbenen Krallen fährt sie im Opener „Sheezus“ gegen sexistische Frauenklischees aus. Das macht sie, indem sie diese exakt bedient: Beyonce-Knowles-Latinas wackeln über die Bühne, sie selbst züngelt mit den Kameras. Bei „Hard Out Here“, ebenfalls ein Song aus dem „Sheezus“-Album, trägt sie selbst aber plötzlich ein bauchfreies Shirt in Army-Look. Das kennt man aus den Zeiten Destiny’s Child nur zu gut. Ob sie jetzt nicht selbst genauso Proletenhaft auftritt, wie es Kanye West tut, darf jeder selber entscheiden. Eigentlich wollte sie den Rapper mit ihrem neuen Album ja konterkarieren. Mit Lily Allen schließt die Blue Stage für dieses Jahr.
Der Zeltplatz ist großteils wie leergefegt. Viele haben bereits am Nachmittag ihre windschiefen Pavillons in ihre Karren gepackt. Sie wollen bei der Heimfahrt am Abend nicht wieder drei Stunden in Neuhausen im Stau stehen. Am Gelände bleiben Lufttierchen, Kondomschachteln und Billigbierdosen auf dem Asphalt und den Feldern liegen.