IMMER WEITER DER HERBST DES STEPHEN STILLS

Stephen Arthur Stills ist 17 Jahre jung, als er sich 1962 mit seiner Akustik-Gitarre vor „ein ziemlich gutes Mikrofon, irgendein deutsches Fabrikat“ ins „The Voice Of America“-Studio in San José stellt. San José, Costa Rica. Der Typ vom Sender hatte ihn vorher auf einer Party angequatscht. Er müsse ihn unbedingt auf Band haben. „Ich sagte: O.k. Und spielte und sang dann diesen Song für ihn“, erinnert sich Stills.

„Travellin'“ heißt dieser Song, der nun die überfällige Stephen-Stills-Retrospektive „Carry On“ eröffnet, ein Vier-CD-Boxset. Was seiner Mutter und später seiner jüngeren Schwester zu verdanken ist, die das Band mit dem Song durch alle Wechselfälle des Lebens gehütet haben. „Dieser Song hat mich wirklich sehr überrascht“, sagt Stills. „Weil ich ihn ewig nicht gehört hatte. ‚Travellin“ ist wohl das erste Stück, das ich überhaupt aufgenommen habe. Wir waren gerade nach Costa Rica gezogen, in meinem letzten Highschool-Jahr. Ich musste mich von meinen Freunden in Florida verabschieden und fand mich in diesem spanischsprachigen Land wieder. Ohne Fernsehen. Da gab’s für mich nach der Schule praktisch nichts anderes zu tun, als Gitarre zu spielen.“

Jetzt „Travellin'“ zu hören, ist nicht nur berührend, sondern auch verblüffend. Weil diesem suchenden Anfang nicht nur ein Zauber innewohnt, der all die Jahre, die er noch vor sich hat, heute mühelos hinter sich lässt. Sondern weil darin auch fast alles Wesentliche von dem auszumachen ist, was Stephen Stills‘ Persönlichkeit als Künstler ausmacht. Dieser reine Gesang, der noch den Chorknaben aus der streng katholischen St. Leo Academy in einem Vorort von Tampa verrät, und später in Songs wie „4+20“ immer wieder auftauchen wird. Dieses souveräne Fingerpicking, das sich zu Stills‘ eigenem Erstaunen innerhalb kurzer Zeit in Costa Rica „voll entwickelt“ hatte. Vorher, in Florida, hatte er in seiner Band ja noch vor allem Schlagzeug gespielt.

Doch auch der Song an sich, so sehr er noch den gängigen Folk der Zeit atmet, ist schon ein echter Stills, in dieser Mischung aus persönlicher Sinnsuche und dem wachen Blick fürs Leben um ihn herum. „I don’t know what I’m looking for, but I know it can be found“, singt Stills also, um dann bald bei den vielen Zeitgenossen zu landen, die auch ziellos umherstreifen. „In dem Alter schreibst du ja über das, was du unmittelbar kennst“, erzählt Stills heute. „Und ich kannte vor allem die Umzieherei. Ich hatte als Kind und Teenager so viele verschiedene Schulen kennengelernt, weil mein Vater ständig versetzt wurde. Ich hatte mich noch nicht richtig verliebt, ich hatte noch keine Freundin – ich versuchte nur ständig, aus Fremden irgendwie Freunde zu machen.“

Das wird Stephen Stills -nach einem Zwischenstopp im New Yorker Greenwich Village – drei Jahre nach dem ersten Song in Costa Rica besonders gut gelingen. Da lernt er auf Tour in Ontario diesen kanadischen Gitarristen kennen, der schon das tut, was er auch so gern tun will: Folk mit einer Rockband spielen. Und weil der kanadische Gitarrist das dann auch besonders gern mit ihm, der amerikanischen Tour-Bekanntschaft, tun will, pilgert Neil Young 1966 in seinem schwarzen 53er-Pontiac nach Los Angeles, in der Hoffnung, Stephen Stills dort irgendwie wiederzufinden. Noch im selben Jahr des legendären Wiedersehens auf dem Sunset Boulevard nimmt Stills mit Young und Buffalo Springfield den Song auf, der gemeinhin als sein Durchbruch gilt. Weil „For What It’s Worth“ 1.) perfekt die Zeit spiegelte, 2.) Stills‘ Sound und seine Identität als Songschreiber erstmals ganz scharf definierte und damit 3.) auch noch kommerziell erfolgreich war.

Ein Durchbruch?“Ich selbst hatte nicht unbedingt das Gefühl, das könnte jetzt der große Durchbruch sein“, antwortet Stephen Stills heute nüchtern. „Aber alle anderen fanden den Song ungemein aufregend. Ich erinnere mich, aus meinem Haus im Topanga Canyon zu kommen, nachdem ich schon ein paar Tage mit diesem Gitarren-Lick rumprobiert hatte. Ich wollte was für die Soldaten schreiben, die unfreiwillig in Vietnam waren -‚There’s something happening here/What it is ain’t exactly clear ‚ – diese Zeilen spukten mir schon im Kopf rum. Ich fuhr also mit einem Freund über diesen Hügel direkt auf diese Bar zu,’Pandora’s Box‘. Die sollte abgerissen werden und einem Shopping Center weichen. Doch jetzt standen da Tausende Kids um diesen kleinen Laden herum -und auf der anderen Seite der Straße die Polizei von Los Angeles in voller Kampfmontur! Das roch nach Ärger. Und ich sagte meinem Freund, er solle umkehren. Ich schnappte mir sofort die Gitarre, und es brauchte kaum fünf Minuten, um den Song fertigzuschreiben.“

Die auch von Neil Young ersehnte Buffalo-Springfield-Reunion (ohne die inzwischen verstorbenen Mitglieder Bruce Palmer und Dewey Martin) kam dann 2010, auf dem alljährlichen „Bridge School“-Benefizkonzert vor der kalifornischen Haustür. Weitere Westcoast-Gigs folgten 2011, auch ein Auftritt beim Bonnaroo-Festival. Doch die avisierte 30-Konzerte-Tour wurde abgesagt. „Klar, ich war enttäuscht“, sagt Stephen Stills. „Neil war zu erschöpft zu dem Zeitpunkt, und so ging er nach Hawaii, um sein Buch fertigzuschreiben. Ein schöner Vorwand für ihn, mal lange an einem Ort zu bleiben. Er hatte vorher wieder mit Crazy Horse gearbeitet, dann die Buch-Recherche, er war ziemlich im Eimer. Ich ärgerte mich schon, weil es Versprechungen gab und ich mir über ein Jahr lang drei verschiedene Zeiträume für die Tour freigehalten hatte. Aber Neil war einfach nicht wirklich bereit dafür.“

Young kam und ging halt schon immer wann und wie es ihm passte. Auch wenn das Y seit dem gemeinsamen Album „Looking Forward“ (1999) häufiger zu CSN auf die Bühne kam, als man lange vermuten konnte. Schließlich hatte er Crosby, Stills, Nash & Young 1989 in einem Interview mit mir noch als „alte Idee“ abgetan, „so langweilig wie heute die Rolling Stones„.

„Eine alte Idee? Wenn Neil das glaubt, bitte schön -ich glaube das nicht“, entgegnete Graham Nash nach einem CSN-Konzert ein Jahr später. „Wir haben eine sehr merkwürdige Beziehung zu Neil. Manchmal ist das sehr frustrierend -manchmal ist es ok.“

Graham Nash, der gute Geist, wenn nicht die Mutter der Kompanie, war nun auch für „Carry On“ zuständig, nachdem er 2007 schon für David Crosby („Voyage“) und zwei Jahre später auch in eigener Sache („Reflections“) erfolgreich Archiv-Pflege betrieben hatte. Die Kärrnerarbeit in den Stills-Katakomben mit rund 1.500 Bändern machte freilich Joel Bernstein. Dann, so erläutert Stills, „bekam ich Vorschläge von Graham. Und dann sagte ich vielleicht: Oh ja, misch das mal neu ab! Oder: Ja, gute Nummer! Es gab also eine gewisse Kooperation für die Box, aber Joel und Graham – die haben das Ding wirklich geschaukelt.“

So wie Nash das Ding schon immer irgendwie geschaukelt hat. Selbst als es in den dunklen Achtzigern vorm Absturz stand. Als David Crosby, mit seiner Hilfe und der einer Gefängniszelle, clean geworden war, musste sich Nash immer noch mit einem notorisch schlechtgelaunten Stephen Stills abmühen, der gern alkoholisiert und schlecht bis gar nicht vorbereitet zu Proben und Konzerten auftauchte. Welch Wunder, dass selbst der gutmütige Nash da mal Dampf ablassen musste und sich etwa 1987 vor einer TV-Kamera beklagte, der Egozentriker Stills hätte ihn und Crosby „nie als Gleichberechtigte behandelt. Er denkt, wir sind seine Background-Sänger, die einfach singen und sonst den Mund halten sollen.“

Damals mochte Stills das nicht kommentieren. Voriges Jahr räumte er in einem Interview ein, dass er „mindestens zweimal auf jeder Tour“ gedacht habe, dass es jetzt vorbei sei. Dass es Dinge zwischen ihnen gebe, die man einfach „nicht beschreiben könne“. Und dass das zuweilen komplizierte Binnenleben der drei (oder vier) im Übrigen en détail auch niemanden etwas angehe. In Zeiten wie diesen eigentlich auch ein ganz erfrischender Standpunkt in Sachen Privatsphäre.

Die Musik von Stephen Stills sagt ja ohnehin genug. Auch und gerade auf „Carry On“. Frühe Demos sind darunter, die der echte Multiinstrumentalist Stills mühelos allein fabrizierte. Und bisher unbekannte Stücke wie „Who Ran Away?“, der Macho-Tupfer „Little Miss Bright Eyes“ oder ein „No Name Jam“ mit Jimi Hendrix, von dem er sich anno 1970 in London ein paar Gitarren-Kniffe noch persönlich abschauen konnte. Auch Ringo Starr gehörte damals zu seiner Entourage, zu hören etwa in einer neuen Abmischung des famosen „To A Flame“. Als Arif Mardin bei diesem Song mit seinem Orchester-Arrangement zu scheitern drohte, nahm Stills den Taktstock einfach selbst und dirigierte die 22 Symphonie-Musiker in zwei Takes zum Ziel – der „größte Wow!-Moment meiner Karriere“, wie Stills in den Liner Notes zitiert wird.

So muss Stephen Stills, bis heute der einzige Musiker, der 1997 an einem Abend gleich mit zwei Bands (Buffalo Springfield und CSN) in die Rock And Roll Hall Of Fame eingeführt wurde, den Vergleich mit Neil Young nicht scheuen, weder als erfindungsreicher Gitarrist noch als genuiner Songschreiber. Der schwierige Kumpel aus Kanada mag ihm Kontroverse und vermeintliche Radikalität voraushaben, was Stills mit Subtilität und unvergleichlich größerer Bandbreite aber locker wettmacht. Ein Song wie „Rock’n’Roll Crazies/Cuban Bluegrass“ konnte 1972 nur von Manassas kommen. Seine leider kurzlebige und nie wieder reaktivierte Band mit den Ex-Burrito-Brothers Chris Hillman und Al Perkins ist bis heute das beste Vehikel für Stills‘ Vielseitigkeit geblieben, samt integriertem Faible für Latin-Musik.

Und dann ist da ja auch noch der Sänger und Interpret Stephen Stills. Schalten wir deshalb kurz zurück zum Chor-Knaben von „Travellin'“. Kaum zwei Jahre später ist er dann schon da, dieser raue Schmirgelpapier-Tenor, in „High Flyin‘ Bird“, 1964 mit The Au Go Go Singers in New York aufgenommen. Zwischen diesen Vocal-Polen konnte Stephen Stills stets mühelos changieren und so den liebeskranken Romantiker („To A Flame“,“My Angel“,“Love Story“) ebenso überzeugend geben wie den bissigen Blues-Straßenköter von „Crossroads/You Can’t Catch Me“.

So produktiv wie Neil Young ist Stephen Stills allerdings nicht geblieben. Und wenn „Carry On“ spätestens auf der vierten CD dann doch langsam an Spannkraft einbüßt, hat das weniger mit diesen fiesen 80er-Synth-Sounds und einer damals gängigen Produktionsästhetik zu tun. Vielmehr spiegelt das Box-Set hier nur ziemlich realistisch einen Songschreiber wider, dessen Kreativfluss leider früher verebbte als man hoffen und nach den Höhenflügen bis in die Mitte der 70er-Jahre hinein vielleicht auch erwarten durfte.

Lässt man Live-Aufnahmen und den 2007 veröffentlichten Archiv-Fund „Just Roll Tape“ außen vor, dann hat es Stephen Stills seit 1984 und dem mediokren „Right By You“ gerade mal auf drei Soloalben mit neuem Material gebracht. Darunter 1991 mit „Stills Alone“ immerhin ein echter Hoffnungsschimmer, der in der Box mit „Isn’t It So“, dem Dylan-Cover „Ballad Of Hollis Brown“ und natürlich der tollen Schmuggler-Schnurre „Treetop Flyer“ angemessen vertreten ist. Also, Mister Stills: Was war und ist da (nicht) los in Sachen Solokarriere?

Stephen Stills antwortet dann tatsächlich, dass ich diese Frage eigentlich seinem Management stellen müsste, „weil die mich ständig on the road halten und unterwegs nun mal keine Zeit bleibt, ordentlich aufzunehmen. Wir sind einfach damit beschäftigt, zu überleben Aber natürlich hat es auch mit meinem Song-Output zu tun. Meine beste Zeit hatte ich ohnehin damals in England in den frühen Siebzigern, da schrieb ich drei, vier Alben am Stück, es gab ständig interessante Leute um mich rum, und ich war noch Junggeselle. Es gibt wenige Schreiber, die ihr ganzes Leben produktiv bleiben, und es gibt die anderen, da kommt es fast alles auf einmal, und dann ist es erst mal vorbei. Writer’s block. Und dann kannst du nur warten. Aber die direkteste Antwort auf diese Frage ist wohl: Mein neueres Material ist oft in der Gruppe aufgegangen. Wenn ich mal was solo angefangen hatte, hab ich meist den Fehler gemacht, die Songs Graham und David vorzuspielen.“(lacht)

Und der Nachruhm? Graham Nash hatte sich schon 1990 mit der Prophezeiung verewigt, dass „unsere Musik auch dann noch gehört werden wird, wenn wir schon längst Staub im Wind sind“. In den Liner Notes zu „Carry On“ wagt nun sogar der Neurowissenschaftler Daniel Levitin die Prognose, dass in hundert Jahren jeder noch „Love The One You’re With“,“4+20″, „For What It’s Worth“ und „Southern Cross“ hören werde.

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