Eine Liebe fürs Leben

DIES IST EIN BEKENNERSCHREIBEN. Oder besser: ein Liebesbrief. Anders lässt sich dieser Text nicht verfassen. Es war im Jahr 1987, als ich meinen ewigen musikalischen Helden entdeckte – in einem Schallplattenbestellkatalog, den im Mathematik-Unterricht unter dem Tisch zu lesen ich mir zur Gewohnheit gemacht hatte. Die Beschreibung von Robyn Hitchcocks Musik klang so verführerisch wie nichts zuvor, seine Songs tatsächlich zu hören, war noch besser. Seither hat mich Robyn Hitchcock als Songwriter durch mein ganzes Leben begleitet. Andere hatten Costello oder Robert Forster -ich hatte Hitchcock. Er ist gewissermaßen mein musikalischer Leuchtturm, an dem ich mich beim Beschippern der Daseinsozeane immer orientieren konnte: Hitchcock hat mir gezeigt, dass man über alles singen kann. Wichtiger noch: Er hat mir die Unerklärbarkeit der Welt erklärt.

Die Platte, die ich damals orderte, hieß „I Often Dream Of Trains“. Ein Album, das klingt, als wäre es in einem alten englischen Schloss auf moosüberwuchertem Instrumentarium aufgenommen worden. Hitchcock sang über seltsame Zwitterwesen, verstörenden Grusel im Kinderzimmer, innere Kathedralen, Moder, Verfall -und Züge. „Ich war damals 29, hatte eine schwere Krise und lebte in meiner eigenen Welt“, erzählt Hitchcock. „Diese Welt war wie südenglische Bahnstationen an einem verregneten Sonntagnachmittag, wo deprimierte Menschen durchs Gebüsch schleichen. Ich nahm die Platte ganz alleine auf, hören wollte sie damals niemand. Heute wird sie sehr geschätzt, das ist schon irritierend.“

Robyn Hitchcock hat bis heute – solo und mit wechselnden Begleitbands -über 30 Alben aufgenommen, die oft klingen, als wäre Syd Barrett bei den Byrds eingestiegen, als wären Monty Python und die Incredible String Band ein und derselbe Verein, als spielten die Beatles Nick-Drake-Songs. Das hat ihm zahlreiche prominente Fans eingebracht: R.E. M., Nick Lowe, Johnny Marr, Graham Coxon, Teenage Fanclub, John Paul Jones und die Decemberists gehören zu seinen Bewunderern und haben alle bereits mit ihm im Dienste des seltsamen, aber lebensweisen Liedes musiziert.

„Das Schweigen der Lämmer“-Regisseur Jonathan Demme drehte gar einen Film mit ihm, der ein Konzert Hitchcocks in einem Schaufenster zeigt. Dennoch ist Hitchcock immer der prototypische Kult-Musiker geblieben. Dies liegt zum Großteil an seinem Alleinstellungsmerkmal, den hochgradig seltsamen Texten: Wenn Frauen plötzlich Insektenfühler bekommen, Teufelshörner aus dem Rührei ragen, Geranien aus Telefonen wachsen oder sich tote Ehefrauen über zu viel Zucker im Kaffee beschweren, kann man sich sicher sein, einem Hitchcock-Song zu lauschen. Zeilen wie „Funny how your ceiling is somebody else’s floor“ oder „Something Shakespeare never said, was: You gotta be kidding“ sind typische Hitchcock-Aphorismen.

Es ist seine lyrische Zügellosigkeit, die Hitchcock zum Spezialisten-Thema macht und dem Gentleman-Engländer immer wieder Attribute wie „exzentrisch“,“surrealistisch“,“komplett bekloppt“ oder „quintessenziell britisch“ eingebracht hat. Die Zuschreibung „exzentrisch“ sei ihm gar nicht lieb, kommentiert Hitchcock. „Was soll das schon heißen? Dass ich verkehrtherum Fernsehen schaue? Michael Jackson war auch exzentrisch, aber ansonsten haben wir wohl nicht viel gemein. Wenn man mich als typisch englisch bezeichnet, ist mir das recht. Ich bin da sicher einem Morrissey nicht unähnlich, dessen Stimme ja immer wie britischer Regen klingt. Oder George Harrison, der sich anhört wie das Wasser, das den Mersey runterfließt.“ Wobei wir wieder bei den typischen Hitchcock-Bildern wären. Die Interview-Antworten des einstigen Sängers der legendären Psychedelic-Punks The Soft Boys sind ebenso mäandernde Gespinste wie seine Songs oder seine Freiflug-Erzählungen auf der Bühne. „Word-Solos“ nennt Hitchcock die improvisierten Geschichten, die er immer wieder bei Live-Auftritten ins Programm einstreut. Da ist schon mal die Rede von Polizisten, die am Strand Eier ausbrüten oder von Christina Aguilera, über die Hitchcock zu berichten weiß, dass sie stets eine Kirche auf Rädern hinter sich herziehe. Doch wie in seinen Songs lauert hinter jeder Seltsamkeit eine abgründige Lebensweisheit. „Es ist ein bisschen wie Jazz“, vermutet Hitchcock. Er selbst wisse auch nie, wo es am Ende bei seinen Geschichten hingehe. Ihm falle eher zu viel ein als zu wenig.

Im März feierte Hitchcock seinen 60. Geburtstag. Pünktlich zu den Feierlichkeiten erschien sein jüngstes Album „Love From London“, auf dem er im Gegensatz zu seinen letzten drei Alben mal nicht von Peter Buck, Bill Rieflin und Scott McCaughey aka The Venus 3 begleitet wird. Statt dessen ließ Hitchcock diesmal den Produzenten Paul Noble über die Texturen der Platte entscheiden, der auf atmosphärische Flächen und Drumloops setzte. Ursprünglich habe er das Album gar „File Under Pop“ nennen wollen, doch das sei ihm am Ende zu sarkastisch gewesen; ein bisschen „Love From London“ aber, das sei doch in diesen grimmigen Tagen eine freundliche Geste. Altersmilde jedoch kennt er keine: „Ich mache mir keine Illusionen über die Menschheit. Wir sind im Grunde primitive Wilde mit sehr gut entwickelter Technologie; wir sind wie Küchenschaben mit nuklearen Waffen. Die Welt wird von ein paar Alpha-Kriminellen dominiert, die Massen von Ich-weißnicht-Menschen in fürchterliche Situationen lenken. Das Klischee stimmt: Die Macht ist in den Händen derer, die am wenigsten dazu geeignet sind, sie gut zu nutzen. Natürlich gibt es ein paar freundliche Millionäre, Künstler und Greenpeace-Aktivisten, aber es lässt sich nicht allzu viel Gutes über die menschliche Rasse sagen. Es gibt Dinge, die man nicht verbessern kann: die Fender-Telecaster etwa oder die Banane. Wir Menschen gehören eher nicht in diese Kategorie.“

Tatsächlich war die Irritation darüber, der menschlichen Spezies anzugehören, lange Zeit Hitchcocks größte Inspirationsquelle. Er selbst spricht gern vom „Shock of Existence“. Hat er den Schock nun, mit 60 so langsam überwunden? „Es nutzt ja nichts. Irgendwann muss man wohl anerkennen, dass man ein Mensch ist. Ich habe lange Zeit versucht, mir erfolgreich einzureden, ein Igel oder ein Zebra zu sein, aber es hat nicht funktioniert.“ Doch auch wenn Hitchcock seine Spleens heute gezielter dosiert als ehedem, sind seine Obsessionen auch auf „Love From London“ die gleichen geblieben: Der Teufel hängt an Marionettenfäden, die Zeit fliegt in einem Ballon davon und es regnet durch feuchte, moosbewachsene Wände. Hinter derlei Seltsamkeiten lauern Hitchcocks ewige große Themen Tod und Vergänglichkeit. „I’m ready for the end of time“, singt er im letzten Song. Was bedeutet das Älterwerden für einen, der sich in seinen Songs so häufig am Thema Sterblichkeit abarbeitet? „Nun, der Guillotine der 60 folgt irgendwann, wenn alles gut geht, die Guillotine der 70“, sinniert Hitchcock. Dass offenbar auch die 80 nicht zu fürchten sei, habe ihm gestern Yoko Ono bewiesen, zu deren Berliner Konzert ihn Michael Stipe mitgeschleppt habe. Ihr Sohn Sean habe die alte Dame ganz großartig durch den Abend dirigiert. Hitchcock grinst: „Ich bin der Überzeugung, Sean und Yoko sind die neuen Mick und Keith.“ Hinzu komme, dass Rock’n’Roll ohnehin längst ein Spiel alter Leute sei; solange er noch Ideen habe, gebe es also keinen Grund, aufzuhören. „Natürlich würde ich gern meine Seele in eine Maschine stecken, damit sie noch 500 Jahre lang Songs ausspuckt. Aber es hat auch sein Gutes, dass das nicht geht – ich würde es vermutlich bereuen. Es führt aber letztlich nichts daran vorbei: Eines Tages werde ich wohl meinen letzten A-Dur-Akkord spielen.“ Möge er bis dahin noch viele Songs schreiben. Über Frauen, die von ihrem Abendessen verschlungen werden, über Wachspuppen und Mitternachtsfische – und natürlich über Züge.

DIE FABELHAFTEN SOFT BOYS

Robyn Hitchcocks erste Band waren die legendären Proto-Punks

Zusammen mit dem Schlagzeuger Morris Windsor, Andy Metcalfe am Bass und dem Gitarristen Alan Davies gründete Hitchcock Ende der 70er-Jahre die Soft Boys. Zunächst spielte die Band einen wilden Mix aus Punk und Folkrock, erste Stücke wurden in Hitchcocks Cambridger Wohnzimmer aufgenommen. 1980 veröffentlichten die Soft Boys das Album „Underwater Moonlight“ – allerdings ohne Davies und Metcalfe, die waren inzwischen ersetzt worden. Damals wurde das Album nicht sonderlich beachtet – der Erfolg kam erst viel später, als der Einfluss erkannt wurde, den das Album auf Bands wie R.E.M. hatte. „Underwater Moonlight“ wurde mehrfach neu aufgelegt.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates