Häuptling der Outlaws
MEIST KOMMEN SIE SPÄT in der Nacht, am Drehort, wenn er seine Gitarre zur Seite gestellt oder die vier, fünf Bücher, in denen er gleichzeitig liest, mit müden Augen zugeklappt hat. Wenn er dann selbst „dem übelsten Fernseh-Trash“ nichts mehr abgewinnen kann (er macht sogar vor der US-Reality-Show „Honey Boo Boo“ nicht halt), melden sie sich unweigerlich zu Wort -die Fragen, die ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen wollen. So viel ist klar: Er liebt seine Arbeit. Kein Vergleich zu den miesen Jobs früherer Jahre. Zumal er inzwischen richtig Knete verdient -Knete, mit der man ganze Inseln kaufen kann oder sich ein professionelles Heimstudio einrichtet. Es ist sogar so viel Knete, dass selbst seine Kinder und Kindeskinder keinen Finger mehr krumm machen müssten. Aber. Gibt’s da nicht irgendwas, mit dem du dich lieber beschäftigen möchtest? Wäre es nicht eine verlockende Vorstellung, sich einfach abzuseilen? Sich an einen stillen Ort zu verkriechen, den Gedanken nachzuhängen und nur zu schreiben? Muss ja nicht gleich Literatur sein -einfach der Kram, der dir tagein, tagaus durch den Kopf schwirrt.
Da es in Albuquerque (wo er einen Sci-Fi-Thriller namens „Transcendence“ dreht) gerade eine Drehpause gibt, ist Depp kurz nach Los Angeles zurückgekommen. Zumal es gestern den Geburtstag seiner 14-jährigen Tochter zu feiern galt. Während draußen gerade die erste Marketingwelle für „The Lone Ranger“ anrollt (in dem Depp als kriegsbemalter Indianer Tonto wieder in einer exzentrischen Paraderolle glänzt -ab dem 8. August auch in deutschen Kinos zu sehen), sitzt er in seinem Büro und hängt eben dieser Frage nach. „Völlig ausschließen mag ich’s ja nicht“, denkt er sich. „Die große Null sitzt mir im Nacken“, sagt er laut, kurz vor seinem 50. Geburtstag -und zieht an einer seiner dicken, braunen, selbst gerollten Zigaretten. „Ich kann nicht mit gutem Gewissen behaupten, dass ich diesen Job auch noch in zehn Jahren machen möchte.“
Derartige Gedanken melden sich „täglich“ zu Wort, sagt er. Was aber nicht bedeutet, dass eine Entscheidung nun unmittelbar bevorstünde. „Solange ich die Gelegenheit habe und den nötigen Bock und den kreativen Funken, sollte ich diese Arbeit auch weiterhin machen“, sagt er mit seiner erstaunlich tiefen, wenn auch merkwürdig nuschelnden Stimme. „Um es dann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, auf das existenzielle Minimum zu reduzieren und, nun ja, einfach zu leben. Wirklich mein Leben zu leben. Irgendwo hingehen, wo man nicht ständig verfolgt wird, wo man nicht durch die Küche oder die Tiefgarage eines Hotels geschleust werden muss. An einem bestimmten Punkt – wenn man ein gewisses Alter erreicht hat und vielleicht auch noch ein paar Hirnzellen freischaufeln kann -, wird einem bewusst, dass man in gewisser Weise eigentlich immer auf der Flucht war.“
Andererseits: Gerade das Alter hält so manch potenziell reizvolle Filmrolle bereit -siehe Marlon Brando, mit dem er vor dessen Tod noch so einige Becher geleert hat. Und das Talent zum Faulenzen hat er obendrein auch nicht. „Ich kann mich einfach nicht entspannen“, sagte er. „Mein Gehirn taugt nichts im Leerlauf. Ich werde nur seltsam. Ich meine, nicht seltsam, sondern einfach nur hibbelig.“ Er drückt seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, der auf einem Café-Tisch mit eingebautem Roulette steht.
Man bekommt recht schnell einen Draht zu diesem Johnny Depp – und versteht auch intuitiv, warum die Helden seiner Jugend (Brando, Keith Richards, Hunter S. Thompson, Bob Dylan) nach und nach seine Freunde wurden. „Als Typ ist Johnny genauso faszinierend wie ein Dylan oder Brando – oder ich selbst“, sagt Richards, der in den „Fluch der Karibik“-Sequels seinen Vater spielte und sich von Depp stundenlang für eine Doku über, genau, Keith Richards interviewen ließ. „Er interessiert sich für die unterschiedlichsten Sachen und ist einfach ein witziger Typ. Man fühlt sich zu solchen Leuten instinktiv hingezogen. Im Grunde ist er ein Typ wie ich -ein scheues, stilles Wasser, das aber tief gründet. Und beide wissen wir auch, dass wir im Leben eine Aufgabe haben … auch wenn uns nicht immer klar ist, worin genau diese Aufgabe besteht.“
Im Moment jedenfalls wirkt Depp wie ein Penner – so verpennt sogar, dass vermutlich selbst reguläre Penner befremdet das Weite suchen würden. Auf seinem Kopf sitzt ein brauner Hut, der so verbeult und verschlissen ist, als habe ihn Indiana Jones bei seinem Ritt im Kühlschrank getragen. Unter seiner unförmigen braunen Segeltuchjacke trägt er ein blaues Jeanshemd, darunter ein T-Shirt mit orangefarbenen Streifen. Seine übergroßen Carpenter-Jeans sind mit weißen Farbklecksen übersät und bestehen nur noch aus Fetzen. Die größten Löcher auf dem Gesäß sind mit Duct-Tape geflickt. Die brauen Lederstiefel – ein Geschenk vom Hersteller A. S. 98 -sind tatsächlich noch neu, sehen aber absichtlich so aus, als seien sie 30 Jahre alt. Er trägt einen Schnurrbart mit Goatee, hat diverse Totenkopf-Ringe an den Fingern sowie viele, viele Tattoos -von denen einige noch jüngeren Datums sind. „Mir gehen allmählich die geeigneten Parzellen aus“, sagt er.
Seine Brille hingegen ist kein modisches Accessoire, sondern eine medizinische Notwendigkeit – auch wenn für eins seiner Augen jede Hilfe zu spät kommt. Seit seiner Geburt ist er auf dem linken Auge „blind wie ’ne Fledermaus“ – ohne dass der Notstand operativ behoben werden könnte. „Ich nehme alles nur völlig verschwommen wahr“, sagt er. „So was wie eine normale Sehkraft hab ich nie gekannt.“ Auf dem rechten Auge ist er kurzsichtig (und neuerdings gleichzeitig auch weitsichtig) – was bedeutet, dass er bei Dreharbeiten nur Dinge wahrnimmt, die sich direkt vor seinem Gesicht abspielen. Es sei denn natürlich, sein Filmcharakter darf eine Brille tragen.
Was das Duct-Tape auf seiner Hose angeht, so hat er folgende Erklärung:“Eines Morgens musste ich mit meinem Sohn zur Schule. Es war eine Veranstaltung, bei der die Kinder auf der Bühne ein Lied vortragen sollten. Natürlich war ich mal wieder spät dran und greife in meine Hosentasche, um zu überprüfen, ob ich mein Portemonnaie und meinen Pass dabeihabe. Aus unerfindlichen Gründen trage ich meinen Pass immer bei mir.“
Zum Beweis holt er seinen Pass aus der Potasche und zeigt ihn mir. (Er ist natürlich genauso zerfleddert wie sein Hut.)“Immer auf der Flucht“, sagt er. „Ich greife also nach hinten und sage nur:,Herr im Himmel!‘ Über dem Arsch ist ein riesiger Riss -und nicht mal eine Unterhose, die das Schlimmste verdeckt hätte.“
An diesem Punkt seiner Erzählung muss ich ihn einfach unterbrechen, denn das ist nun wirklich explosiver Stoff: Johnny Depp trägt keine Unterhose?“So sieht’s wohl aus“, sagt er – und scheint unter dem Schatten seines verbeulten Huts vielleicht sogar ein bisschen rot zu werden. „Jedenfalls – ich griff einfach zum Duct-Tape. Mir ist schon klar, dass es eigentlich ein Witz ist, aber irgendwie sah ich keine Notwendigkeit, seitdem meine Hose zu wechseln.“
Die Hose mag noch die gleiche sein, aber ansonsten hat sich in seinem Leben so einiges geändert. Er sitzt im Eck-Büro seiner Produktionsfirma, einem stilvoll möblierten Raum, in dem dunkelrote Vorhänge die kalifornische Sonne dimmen, und trinkt ein alkoholfreies Bier. Seit eineinhalb Jahren hat er sich keinen Drink mehr gegönnt, auch wenn er das Wort „Entzug“ eigentlich nicht hören mag. „Ich kam einfach zur Erkenntnis, dass mir Alkohol nichts mehr gibt“, sagt er. „Im Lauf der Jahre habe ich mich gewissenhaft mit Wein und Schnaps beschäftigt -und sie auch mit mir -, und gemeinsam kamen wir zu der Feststellung, dass wir uns bestens verstehen. Vielleicht ein wenig zu gut.“
Als Alkoholiker hat er sich trotzdem nie verstanden. „Nein, das körperliche Bedürfnis nach der Droge Alkohol verspüre ich einfach nicht. Es ist mehr wie Medizin, meine selbst verschriebene Medizin, um den Zirkus wieder auf den Boden zu holen. Wenn die Festivitäten im Hirn erst einmal losgehen, kann der Zirkus ganz schön aus dem Ruder laufen.“ Für eine Weile unterwarf er sich seinen hausgemachten Vorsichtsmaßnahmen -nur Wein, kein harter Alkohol -, auch wenn er nie Probleme hatte, mit beinharten Trinkern wie Hunter S. Thompson Schritt zu halten. „Deshalb kamen Hunter und ich wohl auch so gut klar“, sagt er. „Seltsamerweise kann ich problemlos längere Zeit zuschlagen -notfalls über Wochen hinweg. Aber letztlich hat es einfach keinen Sinn. Man begreift, dass man nicht mal sein Auto so rabiat behandeln würde.“
Die wichtigste Veränderung in seinem Leben aber ist privater Natur: Depps Trennung von Vanessa Paradis, der Mutter seiner zwei Kinder, mit der er 14 Jahre lang zusammengelebt hat. „Die vergangenen Jahre waren ein bisschen holprig“, sagt er langsam, „ab und zu auch unangenehm, aber das liegt wohl in der Natur von Trennungen -vor allem, wenn Kinder betroffen sind.“
„Beziehungen sind grundsätzlich problematisch“, sagt er zu einem anderen Zeitpunkt unseres Gespräches, „aber in meinem Metier ist es besonders extrem. Entweder du bist ständig auf Achse -oder sie sind nicht da. Und das macht die Sache natürlich sehr schwer: für sie, für mich, für die Kiddies. Insofern, ja, das ist nun einmal die innere Entwicklung einer Beziehung: Man spielt seine Rolle so lange, bis es nicht mehr geht -und dann kommt ein Stein nach dem anderen ins Rollen. Was immer die Gründe sein mögen, warum sich diese Gefühle verflüchtigen: Es ändert nichts an der Tatsache, dass man füreinander sorgt, dass sie die Mutter deiner Kinder ist, dass man sich allein wegen der Kinder auch nie aus den Augen verlieren wird. Hat man diese Tatsache erst einmal verinnerlicht, sollte man auch das Beste draus machen.“
Klatsch-Medien wie der Online-Dienst TMZ machten eine Sensationsmeldung daraus, dass er nach der Trennung viel Zeit mit Freund und Schmink-Aficionado Marilyn Manson verbrachte -ganz so, als sei er vom trauten Heim geradewegs in die Hölle gewandert. „Johnny und ich waren nie die dicken Saufbrüder“, sagt Manson, „obwohl er derjenige war, der mich auf Absinth brachte – den Schuh muss er sich schon anziehen Es war wohl so was wie Schicksal, das uns in jüngster Zeit wieder enger zusammenbrachte. Wir sind beide durch schwierige Phasen gegangen -und offensichtlich tat uns die gemeinsam verbrachte Zeit nur gut. Es war so was wie eine brüderliche Romanze.“ Manson erzählt, dass niemand so sehr von ihrer neuen Freundschaft irritiert gewesen sei wie seine eigene Freundin. „Sie war außer sich vor Eifersucht:,Alles klar, du hängst nur mit Johnny Depp ab, aber Johnny Depp ist jetzt nun mal Single.‘ Und diese Vorstellung muss für ein Mädchen wohl der reinste Horror sein. Dabei ist Johnny immer wieder überrascht, dass Mädchen ihn überhaupt kennenlernen wollen. Ich schwöre bei Gott: Er kriegt’s einfach nicht mit.“
Depp (inzwischen mit der 27-jährigen Schauspielerin Amber Heard liiert) verbrachte auch Zeit mit einem anderen Freund, den er allerdings erst unlängst persönlich kennenlernte: Damien Echols ist ein Drittel der „West Memphis Three“ und saß wegen Mordes 18 Jahre lang im Knast, obwohl die Indizien inzwischen gegen seine Schuld sprechen. Depp, der zu dem kleinstädtischen Drop-out offensichtlich eine innere Affinität verspürte, hatte Echols‘ Fall seit Jahren verfolgt und seine Verteidigung finanziell unterstützt. Und so wurde Echols, inzwischen auf freiem Fuß, natürlich auch umgehend zu einem Besuch eingeladen. „Komm rein, Fucker“, sagte Depp und schob ihn ins Haus, wo bereits ein warmes Essen auf ihn wartete. Sie haben sich inzwischen fünf, sechs identische Tattoos stechen lassen -unter anderem die Krähe, die in „The Lone Ranger“ auf Depps Kopf hockt.“Wann immer wir uns treffen“, so Echols, „habe ich nie das Gefühl, mit dem großen Filmstar zusammen zu sein. Es fühlt sich ganz wie zu Hause an.“
Wurden Depps frühere Trennungen (Kate Moss, Winona Ryder) stets von Exzessen und Hotelzimmer-Randale begleitet, so stemmte er sich diesmal gegen alte Verhaltensmuster. „Ich hatte mir fest vorgenommen, keinen Tropfen Alkohol anzurühren. Ich wollte nicht die rosa Brille aufsetzen und mir die Situation schönreden. Es wäre tödlich gewesen. Ich empfand es als meine Pflicht, in dieser Phase einen klaren Kopf zu behalten. Ich musste mich auf das Ziel konzentrieren -nämlich sicherzustellen, dass die Kinder nicht unnötig in Mitleidenschaft gezogen wurden.“
Depps Eltern ließen sich scheiden, als er 15 war -und er hat sehr darunter gelitten. Wenn Johnny Depp nun also von seiner eigenen Trennung spricht, kommt er unweigerlich immer wieder auf die Kinder zurück. „Sie waren unglaublich verständnisvoll, unglaublich stark in dieser schwierigen Situation. Es ist hart für alle Seiten: Vanessas Seite, sicher nicht leicht. Meine Seite – nicht leicht. Und bei den Kindern ist es am kompliziertesten. Die Kinder kommen zuerst. Man kann sie von der Realität nicht einfach abschirmen, weil man sonst lügen würde. Deshalb sollte man absolut ehrlich mit seinen Kindern sein und ihnen die ganze Wahrheit sagen. Ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, nicht um den heißen Brei herumzureden.“ Diese Phase ohne Alkohol überstanden zu haben, sei für ihn wichtig gewesen, um „der Realität gefasst ins Auge zu sehen“.
V on seinem eigenen Büro ausgenommen, sind die Räumlichkeiten seiner Produktionsfirma „Infinitum Nihil“ (eine Verneigung vor Tolstoi) hell, luftig und so modern wie die eines Internet-Start-ups. Das Konferenzzimmer quillt momentan über mit „Lone Ranger“-Postern und anderen Displays, die vom Produktionspartner Disney angeliefert wurden. Wobei sie sicher die trivialsten Memorabilia im ganzen Büro sind. Im Flur zu seinem privaten Gemach sieht der Besucher gleich ein riesiges Ölgemälde, das Depp als Vampir zeigt und in „Dark Shadows“ überm Kamin hing. An anderen Wänden hängen Depps eigene Arbeiten -Lucian-Freud-ähnliche Porträts von Dylan und Brando, die mit großzügigen Strichen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit generieren.
Neben seinem Schreibtisch -eine computerfreie Zone! – befindet sich auf einer Seite ein „Fluch der Karibik“-Poster, auf der anderen eins seiner eigenen Gemälde – ein surreales und etwas beklemmendes Porträt eines gesichtslosen Mannes in weißer Uniform. (Später erfahre ich, dass der Titel des Bildes passenderweise „Phil Collins“ lautet.) Eine 100-jährige Akustikgitarre steht in der Ecke, wertvolle Art-déco-Lampen hängen an der Decke -und auf den Regalen sehen wir diverse Trophäen, Baby-Fotos seiner Kinder und Bücher von William Blake, Nathanael West, Neil Gaiman oder Anne Rice. Selbst ein rares Exemplar der kritischen L.-Ron-Hubbard-Biografie „Bare-Faced Messiah“ finden wir hier, die sicher interessanten Gesprächsstoff liefern könnte, sollte Tom Cruise einmal vorbeischauen.
Durch eine Flügeltür geht es in den benachbarten Raum, der eigentlich nur als Museum fungiert. Wir sehen einen „Fluch der Karibik“-Flipper mit Depps illuminiertem Porträt und – hinter Glas und ohne erkennbare Existenzberechtigung -die lebensgroße Nachbildung des Skeletts, das einst den „Elephant Man“ durch die garstige Welt trug. Zwischen beiden steht eine kopflose Kleiderpuppe, die in das schwarze Leder/Metall-Korsett geschnürt ist, das Depp 1990 in „Edward mit den Scherenhänden“ trug. Es ist eine seiner jüngeren Anschaffungen. „Ich wusste gar nicht, dass dieses Teil offiziell produziert wird“, sagt er. „Ich kam neulich ins Zimmer und dachte:,Jesus, ich habe das Ding nicht mehr gesehen, seit ich’s vor all den Jahren getragen habe.‘ Und das war wirklich eine Extremerfahrung. Tampa in Florida, 40,42 Grad im Schatten mit einer Million Prozent Luftfeuchtigkeit. Meine Haare waren zu diesem seltsamen Gestrüpp modelliert worden – Aqua Net sei Dank. Mein Gesicht wurde mit einer dicken Creme eingeschmiert, die man gewöhnlich unter Gummimasken trägt. Ich hab so viel geschwitzt, dass der Gewichtsverlust enorm war. Das war schon ein dickes Ding.“
Der Film wurde im gleichen Jahr gedreht, in dem Depp der TV-Serie „21 Jump Street“ den Rücken kehrte, um einige seiner brillantesten Rollen zu übernehmen. So überzeugend er auch konventionellere Charaktere spielen kann (etwa den Undercover-Cop in „Donnie Brasco“ oder den tumben Drogenschmuggler in „Blow“): Am überzeugendsten wirkt Depp meist in Rollen, in denen er einen schrägen Hut trägt und sein Gesicht schminkt (oder, wie in „Alice im Wunderland“, aus CGI-bearbeiteten Augen in die Kamera schaut). „Edward“-Regisseur Tim Burton, der ihn für bislang sieben weitere Filme engagierte, schrieb über Depp einmal ein kleines Gedicht:“There was a young man/Everyone thought was quite handsome/So he tied up his face/And he held it for ransom.“
„Ich denke, dass er mich damit ganz gut getroffen hat“, sagt Depp.“Womit ich nicht das handsome oder andere äußere Attribute meine, aber innerlich bin ich wohl noch immer der 16oder 17-jährige Junge, der in Bars auftritt und Gitarre spielt. Ich hatte nie die Ambition, selbst im Scheinwerferlicht zu stehen, sondern verdrückte mich lieber in den Hintergrund. Mir war’s nur recht, wenn der Sänger alle Aufmerksamkeit auf sich zog.“
Seine Weigerung, männliche Rollenklischees zu bedienen, bescherte ihm in den Neunzigern eine Vielzahl schauspielerischer Glanzleistungen -von „Ed Wood“ bis zu „Fear And Loathing In Las Vegas“ -, machte ihn aber nicht gerade zum kommerziellen Kassenmagneten. „Unter normalen Umständen wäre ich schon vor vielen Jahren aus dem Rennen gewesen. Genau genommen war ich 18 Jahre lang drauf und dran, so hip wie Thermoskanne und Lunchbox zu werden. Ich machte eine ganze Reihe Filme, die nach kommerziellen Kriterien alles andere als Blockbuster waren. Insofern war ich selbst überrascht, dass immer noch neue Angebote eintrudelten.“
Für seine Rolle als Captain Jack Sparrow wählte er einen populäreren Ansatz. Die Cartoons, die er sich mit seiner Tochter anschaute (plus Buster-Keaton-Filme und, nicht zu vergessen, der typologische Fundus, den ihm Keith Richards lieferte) waren der Ausgangspunkt. Und schon „drehten sie alle durch“, wie er’s selbst ausdrückt. Im Rückblick scheint seine Karriere so clever und langfristig geplant, als sei sie auf einem Brettspiel für Hollywood-Akteure ausgetüftelt worden. Er ist einer der wenigen Stars, dessen Filme weltweit zwei Milliarden Dollar einspielen können (der zweite „Karibik“-Film und „Alice im Wunderland“)- und gleichzeitig ein abgedrehter, unglaublich wandlungsfähiger Charakterdarsteller mit enormer stilistischer Spannbreite geblieben.“Vor 20 Jahren“, sagt „Karibik“-Regisseur Gore Verbinski, „hätte man für einen Johnny-Depp-Film mit Sicherheit kein 100-Millionen-Dollar-Budget bekommen. Inzwischen scheint es unmöglich geworden zu sein, die Finanzierung für einen derartigen Film zusammenzukratzen, wenn er nicht mitspielt.“
„Indem man sich hinter einem Make-up versteckt, fällt es einem leichter, jemandem in die Augen zu schauen“, sagt Depp. „Es ist auch einfacher, in ein anderes Gesicht zu schauen als in das eigene. Ich denke, das trifft auf jedermann zu. Jesus, man wacht morgens auf, putzt sich die Zähne und denkt sich:,Aarrgh, schon wieder dieses Arschgesicht? Bist du noch immer hier? Was willst du überhaupt?‘ Es ist wichtig, sich verstecken zu können – wichtig für das, was von deiner geistigen Gesundheit noch übrig ist.“
Er hat noch eine weitere Methode entwickelt, um die Reste seines mentalen Gleichgewichts zu schützen: Depp hat noch nie einen seiner eigenen Filme gesehen -mit Ausnahme von „The Libertine“ von 2004, als ihn der Regisseur persönlich darum bat. („Übrigens ein Film, den ich nur empfehlen kann.“)“Ich ziehe es nun mal vor, es bei der Erfahrung der Dreharbeiten zu belassen. Mein Job als Schauspieler besteht darin, dem Regisseur verschiedene Optionen anzubieten. Und dann kann man nur hoffen, dass er sich für die wirklich besten Varianten entscheidet.“
Nun ist er also in Gore Verbinskis „The Lone Ranger“ zu sehen. Einer erstaunlich subversiven Version der alten Legende um den maskierten Texas Ranger und seinen indianischen Gefährten Tonto, die, seit sie in den Dreißigern erstmals in einer US-Radioshow erzählt wurde, ein stetig in Film, Comic neu inszenierter Pop-Mythos geworden ist. Verbinski stellt die amerikanische Kavallerie als die Bösewichte dar -und die Komantschen als tragische Helden. Und der Lone Ranger, von Armie Hammer gespielt, ist diesmal ohnehin eher Tontos Sidekick. „Ich wollte ihn nicht als Schießbudenfigur spielen“, sagt Depp, der sich für die Rolle ein stattliches Muskelpaket antrainierte. „Zunächst einmal würde ich mich mit niemandem anlegen wollen, der einen Vogel auf dem Kopf trägt. Und zweitens trägt er diese Kriegsbemalung im Gesicht, die mir einen gehörigen Schrecken einjagen würde.“ Depp selbst hat indianisches Blut in den Adern.“The Brave“, der einzige Film, bei dem er selbst Regie führte, wurde in einem wenig einladenden Reservat gefilmt. Kein Wunder, dass der „Lone Ranger“ definitiv ein größeres Publikum finden wird. „Manchmal“, sagt Verbinski, „kann man eben mehr bewirken, wenn man subversiv von innen heraus arbeitet.“
Als er ihnen erstmals von Depps Interesse am Stoff erzählte, seien die Produzenten hellauf begeistert gewesen. „Für einen Moment dachten alle:,Johnny Depp als Lone Ranger? Fantastisch! Lass uns den Film machen.‘ Die Gesichter wurden lang und länger, als sie dann die Wahrheit erfuhren. ,Was? Er will Tonto spielen? Das ist im Film doch nur der Sidekick.'“
Depp hatte für die Wahl seine ganz eigenen Gründe. „Ich wollte den Kids in den Reservaten einen Zipfel Hoffnung geben“, sagt Depp, der an seiner Halskette ein altes Komantschen-Symbol trägt. „Sie leben dort ohne fließendes Wasser und haben dafür umso mehr Probleme mit Drogen und Alkohol. Ich wollte diesen Kids vermitteln: ,Scheiß auf die Umstände, Mann. Du bist im Inneren noch immer ein Krieger.'“ Als er im vergangenen Jahr von der Komantschen-Aktivistin LaDonna Harris feierlich adoptiert wurde, traf er einige der jungen Stammesmitglieder und hatte Gelegenheit, ihnen diese Botschaft persönlich zu vermitteln. Sie gaben ihm den Namen „Shape Shifter“. „Der Name schien mir sehr treffend zu sein“, meint Harris, die sich auch nicht davon irritieren ließ, dass einige Stammesmitglieder Depps Kriegsbemalung als wenig realistisch und hilfreich abtaten -von der Krähe auf dem Kopf ganz zu schweigen. „Die Komantschen“, so Harris, „sind nun mal ein Volk von Individualisten.“
Ein paar Monate nach seiner Adoption tauchte Depp unangekündigt auf der „Comanche National Fair“ in Oklahoma auf. Er ritt in der Parade, tollte mit den Kindern herum und besuchte eine alte Grabstätte, wo er seinen Tränen freien Lauf ließ. Sie schenkten ihm Mokassins und den mit Otterfell versetzten Kopfschmuck eines Stammesführers, während er sich mit einem seiner Gemälde revanchierte. Am Ende des Tages gestand er LaDonna Harris, dass er sich in seinem ganzen Leben noch nie so willkommen gefühlt habe.
Depp mag wie ein Rockmusiker aussehen, doch er spricht wie ein Schriftsteller, der unablässig an seinen Sätzen feilt und ständig mit der Versuchung kämpft, nicht kurzerhand auf die „Delete“-Taste zu drücken. Er ist ein literarischer Autodidakt, dessen Leben nach Kerouacs „On The Road“ nicht mehr das gleiche war. „Finnegans Wake“ trägt er sogar seit Jahren stets bei sich, um bei passender Gelegenheit wieder mal in das geheimnisvolle Labyrinth von James Joyce einzutauchen. Seit seinen Zwanzigern führt er ein Tagebuch, um so seinen Weg durch das eigene Labyrinth zu finden.
„Man versucht natürlich, in seinem Tagebuch so ehrlich wie möglich zu schreiben“, sagt er. „Aber seltsamerweise gibt’s da eine Ecke in deinem eigenen Kopf, die sich dagegen sträubt. Man ist sich bewusst, dass irgendjemand mal diesen Scheiß lesen wird, wenn man selbst schon unter der Erde liegt. Deshalb hab ich in den letzten Jahren den bewussten Versuch unternommen, meine Gedanken absolut ehrlich zu Papier zu bringen. Das können acht, neun Seiten am Stück sein, manchmal nur ein einziger Satz. Oder zwei. Aber in jedem Fall ehrlich.“
Seine Tagebücher waren jedenfalls nicht vonnöten, um ihm neue Einblicke in seine eigene Kindheit zu verschaffen. Die Erziehung des eigenen Nachwuchses half ihm dabei, seine frühen Jahren als jüngstes Kind einer Familie aufzuarbeiten, die am unteren Ende der Mittelschicht angesiedelt war und die seltsame Angewohnheit hatte, fast jeden Monat erneut umzuziehen -zuerst in Kentucky, später in Florida. Dieses Gefühl, ständig auf der Flucht zu sein, hat ihn mehr geprägt als sein späterer Ruhm.
„Ich kann nicht gerade behaupten, dass meine Erfahrung das perfekte Modell für eine glückliche Kindheit ist“, sagt er. „Es ging ziemlich gewalttätig zu: Wenn man was verbockt hatte, setzte es Prügel. Meine Eltern versuchten sicher ihr Bestes, aber sie hatten nun einmal einen anderen Horizont. Insofern versuche ich nun ebenfalls mein Bestes -wobei meine Mann. Aber man sieht es dir ja nicht an der Pudelmütze an. Es sei denn, du gibst dich offensiv zu erkennen.
„Irgendwann hörte ich: Da gibt’s noch andere Schwule im Stadion. Ich kannte die bloß nicht“, sagt Schlögel. Es war zu der Zeit, als viele Heterofreunde nicht mehr mitkamen, weil sie plötzlich Familie hatten. „Und über gewisse Themen lässt es sich unter Gleichgesinnten doch leichter reden.“ 2001 gründete er mit drei anderen die Hertha-Junxx, den ersten schwul-lesbischen Fußball-Fanklub Deutschlands. 100 Leute waren sie zwischendurch mal. Klaus Wowereit lehnte die Ehrenmitgliedschaft ab. Claudia Roth nahm an, natürlich.
„Klar wollten wir auch provozieren“, sagt Schlögel. Seine Mama nähte ihnen das Hertha-Wappen auf eine Regenbogenfahne, damit zogen sie ins Stadion ein. Und, Überraschung:
Fast niemand schien etwas dagegen zu haben. „Es gab es ein paar blöde Kommentare am Anfang, aber nichts Schlimmes“, sagt Gerd Eiserbeck, der heute Junxx-Vorsitzender ist. Einmal rissen überforderte Galatasaray-Fans ihnen die Flagge runter, das war’s aber auch. Sie gehören längst dazu. Dem Verein ist es recht, gut fürs Image.
Sicher werden nicht alle der heute rund 20 homosexuellen Fanklubs so respektiert. Aber selbst der positive Sonderfall zeigt nun mal, wie der Zusammenhalt wächst, wie sich Ultras und Normalos, Heteros und Schwule immer stärker als Kämpfer derselben Seite begreifen. Jetzt, wo Hertha wieder aufgestiegen ist, wollen die Junxx auch wieder häufiger nach auswärts fahren. Sich zeigen, Lethargie bekämpfen. Die Vorsitzende der Blue Dolphins hat ihnen schon freie Plätze im Bus angeboten. Sie ist Lesbe, die Chefin eines Hetero-Fanklubs.
„Fußball leert den Kopf. Radikal und komplett“, schreibt Fußballexperte Christoph Biermann.“Teilt man diesen Zustand mit vielen Menschen, wird der Sog noch größer.“ Der Nebel aus Zigarettenrauch, Würstchendunst und irgendwas Verbranntem, das Pfeifen im Ohr von der Tröte nebenan, das grelle Leuchten der Fahnen, Transparente, Choreografien, die spätestens in der zweiten Hälfte einsetzende Heiserkeit, all die großen Momente. Das ist der Gedanke, der von dieser kleinen Sommerpausenreise bleibt: dass das nicht alles sein kann. Dass der Fußball sich seinen Kern -das, was ihn überhaupt mal zu einer Bewegung gemacht hat -nur dort bewahren wird, wo die Fans sich eben nicht als Konsumenten sehen. Nicht nur als Zuschauer, obwohl es genug Vereine und Innenministerkonferenzen gibt, die alles dafür tun würden. Sondern als Stimme eines Spiels, das ohne sie einfach stumm wäre.
Die Vorstellung, irgendwann könnte eine Generation von Bundesliga-Guckern heranwachsen, die ihre eigene Macht und Verantwortung nicht mehr kennt, die ist wirklich unerträglich. Dagegen müssen sie kämpfen. Das ist derzeit die größte Gefahr in deutschen Stadien.
Am 19. Mai, während der Siegerehrung im Berliner Olympiastadion, trug Hertha-Kapitän Peter Niemeyer die Zweitliga-Meisterschale demonstrativ in die Ostkurve. Reichte sie über die Balustrade an die Fans, ließ los. „Als ob er den Leuten sagen wollten: Ihr seid ein Teil der Mannschaft!“, meint Gerd Eiserbeck. Die Trophäe kam ordnungsgemäß zurück. Ein letzter Vertrauensbeweis.