Der grüne Schwabe
Ich war, weiß Gott, der größte Kritiker von Baden-Württemberg – vor allem seiner Schwaben. Ich wusste, wovon ich sprach; war ja selbst mal einer. Gegen meinen Willen. Hineingeboren in einen schwäbischen Misthaufen. Der Ministerpräsident ein furchtbarer Jurist, totale Unterdrückung und Verkrustung durch Staatspartei und Staatskirche, kulturelle Vergewaltigung durch militaristische Musikkapellen und die Kehrwoche. Und dann auch noch die Sprache. Ja, liab’s Herrgöttle von Biberach. Die Hölle. Aber nicht mit mir. Also Flucht. Ich schwor: Nie mehr Baden-Württemberg.
Na, aber dann musste ich 20 Jahre später im Zuge des Bürgerprotests gegen den Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ aus beruflichen Gründen nach Stuttgart. Ich dachte noch: Das kann ja jetzt wohl nicht sein, dass ausgerechnet die Schwaben die politische Bürgergesellschaft neu definieren wollen. Die Badener vielleicht, aber die Schwaben? Seit zwei Jahren fahre ich regelmäßig hin, und es ist wirklich hart, aber ich musste meine lebenslangen Vorurteile aufgeben. Mist.
Baden-Württemberg ist aufgebrochen. Weil ein Teil der Bürger sich in der Bahnhofsfrage konfrontativ aufgestellt hat. Aber eben auch weil seit den 80ern die kulturelle und politische Hegemonie des Alten durch ein neues bürgerliches Lebens- und Politikmodell herausgefordert wurde. Früher hatte man sich das alles rock’n’rolliger vorgestellt und wollte Gotthilf Fischer durch The Clash ersetzen. Es kam dann so, dass die Grünen irgendwann auch die Gesangsvereine infiltrierten. Aber genau dadurch wurde nach 58 Jahren die CDU aus der Villa Reitzenstein rausgeschmissen und ein Grüner Ministerpräsident reingewählt, dazu nun ein Grüner Oberbürgermeister in Stuttgart. In Freiburg und Tübingen haben sie längst einen. Und eine ganze Reihe Bürger sind immer noch auf der Straße.
Aus sozialistischer Sicht ist dieser Wechsel vom Altbürgerlichen zum Neubürgerlichen selbstredend keine Revolution. Die will eine demokratische Mehrheit eben auch nicht. Aber es gibt neue Ansprüche an politischen Stil, Partizipation, Transparenz, und letztlich steht hinter der Ablehnung des Tiefbahnhofs die Ablehnung einer alten Clique aus Wirtschaft und angeschlossener Politik sowie vor allem auch die Frage, was im 21. Jahrhundert Fortschritt ist – und was nicht. Dafür engagieren sich Menschen mittleren und höheren Alters in geregelten Einkommensverhältnissen. Das könnte man auch langsam mal verstehen, dass man ihnen das nicht vorwerfen muss.
Die Grünen als führende Regierungspartei – das gilt inzwischen als „normal“. In den Städten sowieso, aber an den Stammtischen der Dörfer letztlich auch. D’r Kretschmann isch scho recht, heißt es. Das ist der große Paradigmenwechsel: Die Baden-Württemberger stehen auf anständige Kerle und ihrem Eindruck nach trifft das auf Winfried Kretschmann und Fritz Kuhn zu und offenbar nicht mehr auf diejenigen, von denen man Jahrzehnte dachte, sie würden einen nicht bescheißen. Dass diese Grünen – abgesehen vom Umstieg auf erneuerbare Energien – allenfalls eine behutsame Modernisierung der Industriegesellschaft initiieren wollen, kann man beruhigend finden oder angesichts der voranschreitenden Rohstoffknappheit und des Klimawandels fatal; es ist jedenfalls so.
Wer dem Schwaben im Aufbruch gerecht werden will, muss zunächst einsehen, dass der nie so war, wie wir ihn zum Zwecke der Selbstaufwertung gern gehabt hätten. Stuttgart hatte immer Kultur, versteckte und begrub RAFler, hielt Peymann aus, brachte HipHop voran und funktioniert als Ausgehmetropole seit mindestens anderthalb Jahrzehnten. Außerdem gibt es den Klischee-Schwaben in Stuttgart allein deshalb nicht mehr, weil die Stadt und auch die 2,5-Millionen-Region zu einem großen Teil aus migrantischen Zugewanderten besteht, denen der Geiz und der Putzfimmel nicht genetisch-völkisch übertragen worden sein kann. Und frag mal einen Kellner, der rumgekommen ist, wo es das meiste Trinkgeld gibt. Nicht in Berlin und nicht in Hamburg. Sondern in Stuttgart. So. Und „liab’s Hergöttle von Biberach“ hat seit den 70er-Jahren kein Mensch mehr gesagt. Außer mir.
Dieser Aufbruch ist ein sanfter, und auch er ist nicht mit den kulturellen und politischen Stereotypen des 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Jemand kann Heino hören und die Energiewende leben. Jemand kann Maultaschen essen oder Froschkutteln, ausschließlich Schwäbisch sprechen und trotzdem ein moderner Weltgeist sein. So wie Hegel. So wie unser Ministerpräsident. Oder wie ich.