Neue Dekadenz
Dunkle synthiewellen über einem monoton drückenden Beat: Vor hundert Jahren wäre die aktuelle Single „Wanderlust“ der britischen Art-Popper Wild Beasts ein hedonistischer Walzer gewesen. Das digitale Zeitalter bemüht hier stattdessen Begriffe wie Coldwave. Aber Wanderlust! Dieser Ausdruck von Fernweh und Formulierung zwanghafter Begierden fasst den Kosmos dieser schlauen Band treffend zusammen. Mit ihrem vierten Studioalbum „Present Tense“ sind die Wild Beasts angekommen in romantisierter Intimität und Ruhe: „Es ist eine Art Soundtrack.
Wie eine Reise im Zug. Die durch das Fenster den Blickwinkel auf die Landschaft verändert. Vom verschwenderischen London, mit seinen unerträglich teuren Gebäuden, langsam hinauf durch die Industriestädte des hohen Nordens“, erklärt Sänger und Gitarrist Hayden Thorpe.
„Present Tense“ beschreibt als Reise effektiv den Werdegang des Quartetts: Gegründet in der Stadt Kendal, zieht es die jungen Männer bald nach Leeds und schließlich weiter in die „beängstigende“ Hauptstadt. Heute sitzen Thorpe und Bassist Tom Fleming auf gepolsterten Sesseln ihrer Plattenfirma und drehen die Heizung hoch. Schließlich ist es draußen ungemütlich. Beide sind entspannt. Umgeben von dandyhafter Aura erinnern sie sich an die Vergangenheit.
Es ist der 26. September 2007. Der zurzeit gefeierte Indie-Pop-Star Jack Peñate gibt im total ausverkauften Londoner Club Astoria ein Konzert. Die Menge ist in Feierlaune. Will mitgrölen und prostet sich kräftig zu. Peñate muss seine Show mehrmals unterbrechen. Die Meute ermahnen, sich lieber nicht zu prügeln. Die witzigen Engländer.
Eine reichlich subversive Entscheidung, den Wild Beasts das Vorprogramm, diesen ganzen Zirkus zu übertragen, wenn man bedenkt, dass die Wild Beast schon ganz am Anfang ihrer Karriere mit Exzentrikern wie Kate Bush oder Queen verglichen wurden. Die vier Jungs aus dem grauen Norden Englands, die Platten voll comichaft überbordender Operetten aufnehmen. Voll rhythmischer Finesse, spontan wechselnd zwischen lauter Extravaganz und stiller Beherrschung. Doch unter der glitzernden Oberfläche der Lieder brodelt immer auch eine würdevolle Aggression. Kleine moralische Klagen über die Laster und Klischees männlicher Identität: Und so fliegen während des Peñate-Konzerts leere und volle Dosen Bier auf die Bühne.
Die Wild Beasts sprechen gern von „Konfrontation“. Sie wollen jedoch nicht mit Sperrigkeit, mit unnötig pompösen Art-Rock-Kompositionen provozieren, sondern mit Ausdruck und Thematik. Schon ihr Debütalbum, „Limbo, Panto“, (2008), spielte mit dieser extremen Drastik. Hayden Thorpes Falsett ist eine Naturgewalt. Schnellt oft farbenfroh durch die Notenskala. Ist schrill, mal hysterisch, immer wieder furchtbar zart. Jung und aufmüpfig gab man sich anfangs:“Wir wollten allen den Finger zeigen, alles und jeden abwehren und das Rad neu erfinden. Das Mittel war wichtiger als die Konsequenz. Wir wollten einen rebellischen Sound schaffen, egal wohin er uns führt“, sagt Thorpe.
Noch auf „Two Dancers“ (2009) waren die Gesten riesig. Doch spätestens seit „Smother“(2011) merkt man der Band ihren Drang zu Reduktion und Introspektive an. So wirken auch die Stücke auf „Present Tense“ befreit von Ballast und Pomp, sind wesentlich monotoner strukturiert und verlagern ihre Komplexität auf kleinere Details: zart synthetisierte Tupfer und Schichten im Hintergrund. Es ist beinahe so, als würden Wild Beasts mit jeder neuen Veröffentlichung ihre Diskografie mehr zu einem musikalischen Bildungsroman umformen, der kritisch die Umwelt beschreibt, Machtverhältnisse aus der eigenen Perspektive beleuchtet. „Eine Parallelschaltung der Dinge“, nennt es Thorpe, „zwischen der Realität und unserer Art, sie darzustellen.“ Im neuen Song „Wanderlust“ tauchen Wild Beasts elegant ein in eine Welt maximaler Dekadenz und schröpfen sie schamlos: „They ‚re solemn in their wealth, we’re high in our poverty/We see the things they never see Don’t confuse me with someone who gives a fuck.“