Kuscheln und kuschen
FRÜHER, ALS DER SCHNEE NOCH EIN anderes Weiß hatte, da konnte der Bürger im Taxi lernen, wie’s um sein Land steht, und jeder zweite Reporter wählte einen Texteinstieg mit dem Taxifahrer – er erzählte was Erhellendes und setzte Signale für die Geschichte. Inzwischen aber belieben die Fahrer zu schweigen, ihre Miene muss reichen: Die Zeiten sind beschissen, obwohl die Ossis jetzt immerhin einen 2,5 Tonnen schweren Dresdner Christstollen gebacken haben. Wortlos also geht’s zum Weihnachtsmarkt, dem Ort, wo sich die Herzen öffnen und die Zungen lösen und der Volkszorn glimmt. Und da hinten lehnt Thomas Ebermann am Tresen einer Hamburger Glühweinbude; der Dezember hat begonnen, und Ebermann könnte speien, am Industrieglühwein jedoch liegt das weniger.
Ebermann half 1980, die Grünen zu gründen, und es erschüttert ihn, wie diese Partei ergraut: Jetzt sind die Grünen schon so weit, dass sie in Hessen mit der CDU gehen. Ebermann und andere Fundamentalisten verließen die Grünen bereits 1990, denn sie ertrugen die Sozialdemokratisierung nicht länger. Dabei hat Ebermann mehr Leidenskraft als jeder Bundestagsabgeordnete – er begleitete einmal seinen Fußballverein FC St. Pauli zum Regionalligaspiel nach Meppen und fror an der Seitenlinie bei minus 3 Grad neben 47 anderen Zuschauern, das Spiel endete 0:0, Ebermann beschwerte sich nicht. Vor dem Ex-Taxifahrer Joschka Fischer warnte Ebermann sehr früh, und „die Pest an den Hals“ wünscht er immer noch allen Leuten, „die das Sagen haben in diesem System“; die Gesellschaft von Grünen meidet er nun so wie der Papst das Kirschwasser.
Die Weihnachtsmarktbesucher um Ebermann herum essen ihre Bratwurst und bereden die Große Koalition, die Spitzen der CDU und SPD haben das gemeinsame Regieren gerade beschlossen, die SPD-Mitglieder müssen das Geschäft noch gutheißen, eine einfache Mehrheit genügt (wie bei Robbie Williams: „Ich bin zu 49 Prozent schwul“, das bedeutet, die Frauen haben mit 51 Prozent doch knapp gewonnen). Auch auf dem Weihnachtsmarkt kriegt die Koalition mehr Ja- als Nein-Stimmen, ein bisschen Hohn kommt dazu, die Leute lachen – Gabriel habe sich elegant von Merkel nehmen lassen; Steinbrück und Steinmeier könnten Agenten der CDU sein; Hannelore Kraft habe jetzt schon ähnliche Mundwinkel wie Merkel nach acht Jahren an der Macht; das Beste, was Seehofer zuletzt in Bayern eingefallen ist, sei der Rosenkranz to go aus dem Automaten für vier Euro inklusive Gebetsanleitung.
Übrigens sei Nahles die Richtige und Einzige, die bei Merkel durchdringen und sie vom SMS-Tippen abhalten würde. Ein Rentner mit Elchmütze sagt, er hätte gern den Gysi in der SPD, denn erstens brauche die SPD nach Helmut Schmidt mal wieder einen super Redner, und zweitens wolle Gysi doch die Armut abschaffen. Thomas Ebermann hat zugehört und muss voller Verachtung den Rotz hochziehen.
Eine Frage abseits der Politik stellt sich am Stand nebenan, wo die Zimt-Crêpes dampfen: Welcher Tote des Jahres hat den Menschen mehr Glück geschenkt, Marcel Reich-Ranicki, Lou Reed oder Hans Riegel, der Vater der Gold-Gummibären? Alles ist mit allem verbunden, und ein Bild des Jahres bleibt: wie die Nazi-Braut und mutmaßliche Serienmörderin Beate Zschäpe vor Gericht steht und dem Publikum stets den Rücken zuwendet – es ist unmöglich, bei diesem Arroganzzeichen nicht an Miles Davis auf der Bühne zu denken.
Thomas Ebermann zahlt an der Glühweinbude, er hat wohl Sehnsucht, seine andere Hälfte fehlt, normalerweise erscheint er nur mit seinem Kumpel Rainer Trampert, sie saßen 1987/88 für die Grünen im Bundestag. Als Duo schrieben sie einst für den ROLLING STONE und nun schreiben sie Bücher und Stücke und sind von Poesie berührt: die Simon &Garfunkel unter den Ökosozialisten. Die Goldenen Zitronen, Rocko Schamoni und Tocotronic musizieren gelegentlich zu Texten von Ebermann & Trampert, teilen deren Ansichten und würden Ebermann, der heute 62 ist, direkt zum Bundeskanzler wählen – eine Koalition gäb’s auf keinen Fall, denn kuscheln ist nur einen Buchstabe von kuschen entfernt.
Im nächsten Heft kommt der „Typewriter“ wieder von Jenni Zylka.