Magier des Zufalls
JETZT IST ES SCHON WIEder passiert: Wayne Coyne hat einen seiner berühmten Enthusiasmus-Anfälle. Der Grund, warum der freundliche Flaming-Lips-Oberprediger gerade mal wieder völlig aus dem Häuschen ist, verdankt sich eigentlich einem Fehler. „Das musst du dir ansehen“, raspelt er mit zerschossener Stimme und zückt sein Smartphone. Was er nun zeigt, sieht aus wie ein typisches Handy-Live-Filmchen – nur mit dem Unterschied, dass der Filmer – Coyne – nicht vor, sondern auf der Bühne stand: Es blitzt und strahlt, dazu scheppert es übersteuert. „Siehst du die Lichtreflexionen? Ist das nicht großartig!? Und das Beste: Eigentlich sollte es ganz anders aussehen. Aber so ist es eben oft bei uns: Wir wollen oft etwas ganz anderes und durch irgendeinen blöden Zufall finden wir etwas Großartiges. Dieser Aus-Versehen-Lichteffekt wird jedenfalls Teil der neuen Bühnenshow sein.“
Nein, auch im 30. Jahr ihres Bestehens haben die Flaming Lips nichts von ihrer kindlichen Experimentierfreude eingebüßt. Noch immer ist der Weg der Psychedeliker aus Oklahoma gepflastert von Irrsinnstaten. Alleine die letztjährigen Aktivitäten der Band gehen weit über das hinaus, was andere Bands an blankem Unfug im Laufe einer ganzen Karriere bewerkstelligen: So veröffentlichte die Band etwa eine hirnausstülpende Zusammenarbeit namens „Heady Fwends“ mit so unterschiedlichen Künstlern wie Yoko Ono, Neon Indian, Nick Cave, Erykah Badu, Bon Iver oder Ke$ha. Für die zum letztjährigen Record Store Day veröffentlichte Vinylvariante ersuchte Coyne alle Mitwirkenden um Blutproben, die in das Vinyl hineingemischt werden sollten (etliche Musiker machten sogar mit!). Außerdem brachten die Lips zuerst einen sechs- und dann – einmal im Wahn – einen vierundzwanzigstündigen Song heraus. Letzterer, so Coyne, funktioniere am besten, wenn man Sex dazu habe. Weiterhin beteiligte sich Coyne an einem surrealistischen Hörspiel über einen sprechenden Tumor, adoptierte zwei Pfauen des Zoos von Oklahoma und legte für einige Stunden den Flughafen seiner Heimatstadt lahm, weil er in seinem Gepäck eine alte Handgranate mitführte, die er auf einer Party hatte mitgehen lassen. Lediglich sein Vorhaben, während der Liveshows der Band ferngesteuerte Dildos zum Einsatz zu bringen, konnte der Unermüdliche bislang noch nicht umsetzen.
Doch die Flaming Lips wären nicht die Herzensband so vieler Menschen, wenn sie sich allein in derartigen Prankstereien erschöpften. Coyne weiß das und liefert seiner Gemeinde daher immer wieder Stoff zum Meditieren: Tod, Scheitern, Macht, Abhängigkeit und tiefe Verzweiflung sind ihm, seinem musikalischen Partner Steven Drozd, Bassist Michael Ivins und Drummer Kliph Scurlock willkommene Themen, um daraus großäugige, scheppernde Popsongs zu fabrizieren. Oder düstere Klanggebilde wie auf dem neuen Album „The Terror“. Die Platte hat, ähnlich wie schon das letzte reguläre Werk „Embryonic“, nichts mehr mit dem quietschigen Widescreen-LSD-Pop früherer Platten zu tun.
Überschwängliche Hymnen, honigsüße Psych-Balladen oder scheppernden Pop sucht man diesmal vergebens; stattdessen überwiegen elektronische Soundflächen: „Es ging uns mehr um Atmosphäre als um Songs“, stimmt Coyne zu. Ohnehin sei es ursprünglich gar nicht geplant gewesen, so kurz nach „Heady Fwends“ ein neues reguläres Album zu veröffentlichen und die neue Platte mithin mehr oder weniger zufällig entstanden: „Anders als Beyoncé oder Coldplay haben wir keine Marketingkonzepte im Nacken, die uns diktieren, wann unsere Platten rauszukommen haben. Das ist ziemlich großartig, wir können machen, was wir wollen. Sogar ein total düsteres Album.“ Und so klingt „The Terror“ denn auch mehr wie der Soundtrack für einen vergessenen tschechischen Depri-Science-Fiction-Film, über dessen Entstehung alle Beteiligte wahnsinnig geworden sind. Wayne Coyne lacht gurgelnd: „Gefällt mir, der Vergleich. Wir sagen mittlerweile intern: Die Platte hat etwas Osteuropäisches. Steven hat ja wirklich osteuropäische Vorfahren, vielleicht kommt es also daher.“ Tatsächlich ist „The Terror“ mehr denn je eine Steven-Drozd-Platte, auf der der aufgekratzte Wanderprediger Coyne seinem Freund hörbar die Regie überlässt. Alles begann damit, dass Coyne seltsamer Aufnahmen anhörig wurde, die sein Musikerkollege im heimischen Kellerstudio aufgenommen hatte. „Was ich da hörte, klang extrem düster und hatte etwas sehr Beängstigendes. Da war diese klagende Stimme, die sang: ,You are alone‘, eine andere Stimme antwortete:,I am not alone‘. Wir haben den Part für das fertige Album übernommen, überhaupt waren diese kargen Aufnahmen von Steven der Ausgangspunkt für alles.“
Der Grund für die Düsternis der Platte liegt vermutlich in neuerlichen Drogenproblemen Drozds, der seit seinem Heroinentzug vor zehn Jahren eigentlich clean war. „Ja, es gab da Probleme“, gibt Coyne zu, „wir wollen mit diesem Thema nur nicht mehr so freizügig umgehen, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Steven hat ja mittlerweile kleine Kinder. Sagen wir es so: Er hatte Probleme, aber es geht ihm inzwischen besser als je zuvor.“
Es ist dennoch nicht zu erwarten, dass sich Coyne demnächst irgendwo anketten wird, um gegen die Freigabe berauschender Substanzen zu protestieren. Denn: Coyne selbst ist Drogen neuerdings keineswegs abgeneigt. Der Anführer einer Psychedelic-Band, der Stimulanzen zu sich nimmt – man könnte annehmen, dass dies einen Neuigkeitswert hat, der gegen null tendiert. Tatsächlich aber hat sich Wayne Coyne in Drogen-Angelegenheiten bisher stets zurückgehalten: Zu sehr haben ihn die Erfahrungen seiner älteren Brüder abgeschreckt, die in der Vergangenheit mit schweren Suchtproblemen zu kämpfen hatten. Nun aber, mit über 50, hat die redselige Oberlippe dann doch noch Freude an illegalen Hilfsmitteln gefunden. „Ich nehme aber nur Spaßdrogen wie MDMA oder Kokain, nichts Heftiges“, beschwichtigt er und wirkt dabei so angenehm unseriös, wie man es nur noch selten in Rockmusikerzirkeln vernimmt. Wer ihn kenne, fährt er fort, der wisse, dass er ein sehr intensiver Typ sei: immer auf Zack, stets arbeitswillig, jederzeit bereit, irgendeinen Unfug auf die Beine zu stellen, der mit Menschen in Nikolauskostümen, Konfettikanonen und ein paar Explosionen zu tun hat. Die Drogen – und regelmäßiges Yoga – seien einfach hilfreich dabei, ihm ein bisschen von seiner Intensität zu nehmen.
Intensiv ist ein gutes Stichwort: Unterhält man sich mit Coyne, fällt es mehr als schwer, sich vorzustellen, dass der Mann auch nur wenige Minuten untätig sein kann. „Du musst mich unterbrechen“, empfiehlt er selbst mitten im Gespräch, „ich labere sonst immer weiter.“ Das Älterwerden habe an seinem Schaffensdrang zudem nichts geändert, im Gegenteil: Es werde immer schlimmer. Selbst das Verlegen von Kabeln auf der Bühne und das Kontrollieren der zahlreichen selbst gebastelten Live-Effekte mag er bis heute nicht seinen Roadies überlassen.
Stattdessen läuft Coyne vor jedem Auftritt noch einmal selbst über die Bühne, ruckelt an sämtlichen Steckern und klebt eifrig Gaffer-Tape. Vor den Augen seines hysterischen Publikums wohlgemerkt, dass ihn nur wenige Minuten später als irrsten aller Indie-Popstars feiert. „Bei den Flaming Lips ging es immer auch darum, dass man, obwohl man eine spektakuläre Superrockstarshow abzieht, ein bodenständiger Typ bleiben kann“, raspelt Coyne. „Insofern ist es auch eine Art Punkrock-Statement, dass die Leute mir vor dem Auftritt beim Arbeiten zusehen können. Es ist mir tatsächlich wichtig, all diesen Kram selbst zu machen. Aber es steckt inzwischen auch eine Aussage dahinter.“
Dem 30. Geburtstag seiner Band mag er indes nicht viel Bedeutung beimessen. Eine große Sause mit wandelnden Skeletten, Ufos und bemannten Plastikkugeln zu Walhalla-Gedonnere auf irgendeinem Friedhof ist zur Zeit nicht geplant. Man habe sich ja schon Anfang der Neunziger gewundert, dass man zehn Jahre zusammengeblieben sei, auch das 20. Jubiläum sei intern eher mit beiläufiger Verwunderung zur Kenntnis genommen worden. „Mir ist nur eins wichtig: Wir sind eine stabile Einheit. So bin ich eben: Ich mag es gerne, wenn die Dinge stabil sind. Ich bin ein Familien-Typ. Mir ist daran gelegen, dass es allen gut geht: den Musikern, der Roadcrew, dem ganzen Team. Nur so können wir unseren ganzen Quatsch ausleben und alle diese großartigen Sachen auf die Beine stellen. Es ist schon fantastisch!“ Da, schon wieder: ein Enthusiasmus-Anfall.
AUF DEN SPUREN VON PINK FLOYD
Das neunte Album „The Soft Bulletin“ war der Durchbruch für die Flaming Lips
Das Cover von „The Soft Bulletin“ zierte einst eine LSD-Reportage des „Life“-Magazins – und ein veritabler Trip ist das berühmteste Album der Flaming Lips denn auch. Von Kritikern wurde es 1998 für den eingängigen Mix aus Elektronik, Melodieseligkeit und den im Sinfonischen gipfelnden Sound gelobt und mit Klassikern wie „The Dark Side Of The Moon“ oder „Pet Sounds“ verglichen. Das Meisterwerk war indes nur der Beginn einer erfolgreichen Schaffensperiode der Flaming Lips: Auch der verspielt-psychedelische Nachfolger „Yoshimi Battles The Pink Robots“(2001) war ein kommerzieller Erfolg.