Mann der Stunde
Mit herrlichem Zeitlupen-Soul und eigener Firma ist MATTHEW E. WHITE die Überraschungs-Nr.-1 unserer Kritiker-Charts. Völlig zu Recht
Eine seltsam geisterhafte Musik ist es, die Matthew E. White auf seinem herausragenden Debütalbum „Big Inner“ präsentiert. Der als Sohn zweier Missionare in Virginia geborene Sänger und Gitarrist spielt Seventies-Soul, der wirkt, als würde man die Musik von damals im Traum hören. White brummelt und flüstert und bringt seinen Liedern etwas Surreales bei. Mit komplexen Arrangements aus einer vom Jazz informierten Soul-Band, leicht verfremdeten Gospelchören und mit Patina überzogenen Bläsersätzen.
Der öfter angestellte Vergleich mit Kurt Wagner oder Bill Callahan ist durchaus richtig, und stimmt doch nur teilweise; White liebt die Art der Musikproduktion von Motown und Stax (aber auch Allen Toussaint und Randy Newman) und rekreiert sie mit großer Akribie. „Als ich klein war, hatte ich eine Kassette mit Chuck Berry auf der einen und den Beach Boys auf der anderen Seite“, sagt White. „Ich habe sie rauf und runter gehört, bis sie völlig ausgenudelt war. Das war meine musikalische Ersterfahrung und der Anfang einer langen Reise, auf der ich mit fast jedem Genre amerikanischer Musik etwas Zeit verbracht habe. Später habe ich mich mit dem New-Orleans-Sound befasst und dann Jazz studiert. Ich liebe es, wie frei und unmittelbar diese Musik ist.“
Das hört man „Big Inner“ an – White spielt den alten Soul respektvoll, aber auch neugierig, unkonventionell, manchmal fast abstrakt. „Ich wollte, dass alles zusammenkommt. Es gibt ein großes Bild hinter all den verschiedenen Stilen und Spielarten – einen Geist, der Jazz und Blues und New Orleans und Funk zu einer allamerikanischen Musik verbindet. Diesem Geist jage ich hinterher.“
„Big Inner“ ist nur die eine Hälfte der Geschichte, die White zu erzählen hat. Die andere ist Spacebomb – seine Band, sein Studio, sein Label. Die Idee: Ein Kollektiv von Musikern übernimmt den gesamten Prozess der Musikproduktion vom Songwriting bis zur Veröffentlichung, von der Kreativität bis zum Geschäftlichen. Schon haben die ersten Künstler ihre Lieder von Spacebomb produzieren und verlegen lassen: Karl Blau, den man zum Beispiel von Laura Veirs kennt, Joe Westerlund von Megafaun (mit denen White eng verbündet ist) sowie eine Handvoll weiterer Musikerinnen und Musiker.
Spacebomb funktionieren als bei Bedarf erweiterbare Hausband wie einst die Muscle Shoals Sound Rhythm Section, die Funk Brothers oder die Booker T. & The M.G.’s. „Wir wollen anderen Musikern helfen, die Vision ihrer Musik umzusetzen“, erklärt White. „Ein bisschen wie früher, bevor die Idee vom Singer/Songwriter die Studiobands arbeitslos gemacht hat. Die Musiker bei Motown und Stax haben die Musik anderer Leute aufgenommen – das war ihr Job, nine-to-five. Ich kann dem Prinzip des Session-Musikers viel abgewinnen – viele der besten Aufnahmen aller Zeiten entstanden in so einem Kontext.“
Doch auch das Geschäftliche soll Spacebomb abdecken. Eine gewagte Kombination? „Wir wollen einfach nicht dieses Gegenüber von Geschäftsleuten und Künstlern haben, deshalb machen wir alles selbst. Das Business hat sich radikal verändert, also müssen wir auch unsere Konzepte radikal verändern, um eine als Musiker eine Existenzgrundlage zu haben.“
Vermutlich wird die Kundschaft bald Schlange stehen – schon deshalb, weil „Big Inner“ in puncto Klangtechnik, Kreativität und musikalischer Finesse eine fabelhafte Referenz ist. „Bisher bin ich ja nur zu unseren Freunden gegangen und habe sie gefragt, wie wär’s, du gibst uns deine Lieder, wir machen damit, was wir wollen“, erklärt White. „Für das, was wir anbieten, braucht man Vertrauen – mal gucken, wann die ersten Künstler kommen, mit denen uns keine lange Freundschaft verbindet. Wenn Adele anruft, sagen wir jedenfalls nicht nein“, scherzt White.
Kleinere Kunden haben indes zunächst das Nachsehen – Whites hochgelobtes Album bekommt derzeit viel Aufmerksamkeit, die Tourneen führen den Künstler weit weg von der Heimat. Für absehbare Zeit wird White also in eigener Sache unterwegs sein, anstatt anderer Leute Musik aufzunehmen. „Ob ich nun gerade meine eigenen Lieder singe oder die von anderen Musikern aufnehme – die Dinge hängen eng zusammen“, sagt Matthew E. White. „Wir versuchen immer, die Story als Ganzes zu erzählen. Die Leute sollen sehen, dass das hier nicht nur ein Label und nicht nur eine Studioband ist – sondern eine Gemeinschaft von Künstlern.“