Rush – Ein Kuckucksei im Nest
In ihrem vierten Jahrzehnt angekommen, erzählen Rush auf "Clockwork Angels" einen zwölfteiligen Sci-Fi-Roman und träumen von fliegenden Dampflokomotiven auf dem Broadway
Auch vierzehn Jahre später muss man die jüngere Geschichte von Rush noch ausgehend vom 20. Juni 1998 erzählen. An jenem Tag starb die Ehefrau von Trommler Neil Peart an Krebs; ein knappes Jahr zuvor war Pearts Tochter bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der erschütterte Mann setzte sich aufs Motorrad und ver-schwand mehr oder minder von der Bildfläche – vier Jahre waren Rush quasi aufgelöst; jedenfalls schien das Fortbestehen unwahrscheinlich. „Die Tragik hat uns alle voll erwischt“, erinnert sich Lifeson. „Ich habe ein gutes Jahr lang keine Gitarre gespielt, an Songwriting war nicht zu denken. Wir saßen nur da und hofften, dass es unserem Freund irgendwann wieder gut gehen würde.“
Peart, der nach Los Angeles zog und inzwischen wieder verheiratet ist, kam drei Jahre später zurück, um einen Neuanfang zu wagen. Das 2002 veröffentlichte Album „Vapor Trails“ war ein vorsichtiger Versuch, Ausgang ungewiss – Rush stellten sich ins Studio und nahmen ein relativ unbehauenes Album auf. „Die Platte klingt nicht so gut wie unsere anderen, und unsere bes-ten Lieder sind auch nicht darauf“, sagt Gitarrist Alex Lifeson im Rückblick, „aber es sind die emotionalsten, ehrlichsten Aufnahmen, die es von uns gibt.“
Dass Rush in den folgenden Jahren ihre größten Erfolge feierten, sagt viel über die – nach der Tragödie noch engere – Bindung der kanadischen Band zu ihren Fans. Anteilnahme, Treue, Freundschaft, Bescheidenheit, Identifikation: Das sind die Dinge, die den Konzerten der Band ein feierliches Element verleihen, selbst vor hunderttausend Menschen in Rio.
Dort stehen natürlich nicht nur die ProgRock-Kenner, sondern auch Jennifer-Lopez-Hörer. Das ist das Kuriosum dieser großen Karriere, die wegen der Komplexität und Eigenwilligkeit doch eigentlich weit weg vom breiten Geschmack hätte stattfinden müssen. „Ich glaube, die Leute bekommen sehr unterschiedliche Dinge von uns“, versucht Lifeson eine Erklärung dafür, warum so viele Menschen ihren Spaß an den vertrackten, oft epischen Liedern von Rush haben. „Man kann uns auch als klassische Hardrock-Band hören oder sich an den Melodien erfreuen. Aber mehr noch zählt das Verhältnis zwischen unserem Publikum und uns – unsere Fans nehmen uns offenbar sehr persönlich.“
Das neue Werk, „Clockwork Angels“, macht keinen Hehl aus den Ursprüngen der Band im Prog Rock der späten Siebziger: Die Platte ist ein Konzeptalbum. Peart, traditionell für die Lyrics zuständig, erzählt in zwölf Liedern einen Sci-Fi-Entwicklungsroman zwischen „Der Goldene Kompass“, Scorseses „Hugo“und „Die Abenteuer des Tom Sawyer“. Das Buch zum Album ist schon fertig, Peart würde laut Lifeson am liebsten sogar ein Broadway-Stück machen. Wir freuen uns schon auf die fliegenden Dampflokomotiven! „Unser Produzent hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt“, erklärt Lifeson. „Er sagte, versuch dich doch mal an etwas Großem, Komplexem. Zuerst hatte er Bedenken, doch dann hat er sich herausgefordert gefühlt.“
Zu Beginn ihrer Karriere hätten Lee und Lifeson aus der epischen Geschichte von dem Jungen, der auszieht, seine Träume zu verwirklichen, mindestens ein überbordendes Zwanzigminutenlied gemacht – so tatsächlich geschehen auf den Alben „2112“ und „Hemispheres“ von 1976 und 1978. Doch Rush haben sich bereits Ende der Siebziger aus der Nerd-Nische befreit und kompakte Lieder zu schreiben begonnen, in denen sich Musicianship und Pop-Appeal verbanden. In den Achtzigern waren Rush ein Kuckucksei im Nest der mainstream-tauglichen Rockmusik, eine Band, die in Liedern wie „Tom Sawyer“ melodisch verzückte und dem gemeinen Hörer trotzdem schwierige Taktwechsel und instrumentale Kapriolen unterjubeln konnte.
Auch 30 Jahre später sind das die Pole in der Musik von Rush. „Uns ist Souveränität an unseren Instrumenten sehr wichtig“, erklärt Lifeson, „aber das ist kein Selbstzweck. Bei uns ging es immer um gute Songs und einen magischen Moment im Songwriting. Wir wollten immer dranbleiben, uns weiterentwickeln. Deshalb sind wir – denke ich – auch im vierten Jahrzehnt noch relevant.“
Das kann man sagen. Nach den Anfängen als Led-Zeppelin-Nachahmer änderten die Kanadier ungefähr alle vier Alben ihren Stil, hatten eine synthielastige Phase und spielen seit zehn Jahren nun die lautesten Riffs ihrer Karriere. Das neue Werk hat nicht nur die besten Songs seit der Rückkehr, sondern auch jede Menge klassische Rush-Momente – Lees verzerrter Bass („Spirit Of Radio“!), Lifesons wild-orientalische Gitarrensoli („YYZ“!), Pearts akademisch konzipierte Schlagzeugrhythmen („Freewill“!) – all das ist auch auf „Clockwork Angels“ eine helle Freude, wenn man die Leidenschaft für diese Band teilt. „Wir fühlen uns besser denn je“, sagt Lifeson, „wir haben noch nie so gut gespielt wie heute – und wir lieben es, zusammenzuarbeiten.“ Nach so vielen ätzenden Band-Scheidungen: endlich Harmonie! Ein Lob der Friedfertigkeit! Da freut sich sogar der Musik-Reporter spontan mit.